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Kunstwerke afrikanischen Ursprungs
​Restitutionen? Eventuell. Unser Ziel ist eine dekoloniale Archäologie

Christian Greco, Leiter des Ägyptischen Museums in Turin
Christian Greco, Leiter des Ägyptischen Museums in Turin | © Ägyptisches Museum, Turin

Im Zuge der Debatte um die Restitution von Kunstwerken afrikanischen Ursprungs durch europäische Museen an ihre rechtmäßigen Eigentümer regt der Direktor des Ägyptischen Museums in Turin dazu an, das Thema aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Christian Greco spricht lieber von Weltkulturerbe als von nationalen Schätzen: Er fordert dazu auf, grenzübergreifend zu denken und Kooperationen aufzubauen, die allen Beteiligten Vorteile bringen.

Von Kibra Sebhat

Am 17. Oktober 2020 fand das Festival Alles vergeht, außer der Vergangenheit statt, in dessen Rahmen Sie an der Eröffnungsdiskussion mit Professorin Bénédicte Savoy und Professor Didier Houénoudé teilgenommen haben. Beide setzen sich für die Restitution der von Afrika gestohlenen Kunstwerke ein. Sind die ägyptischen Fundstücke ein Sonderfall?
 
Ägypten hat an mehrere Museen Restitutionsforderungen gestellt, aber mein Vorschlag wäre, gemeinsam eine andere Form der Zusammenarbeit zu finden. Savoy hat uns klar vor Augen geführt, dass wir hier eine Debatte erleben, deren Anfänge bis in die Achtziger (!) zurückreichen. Zwei Schritte vorwärts, zwei zurück, neuerliches Umdenken – so geht das seit Jahren. Ich frage mich, ob wir nicht versuchen sollten, diese Spaltung zwischen dem Westen und Afrika zu überwinden. Wir konzentrieren uns alle auf das Eigentum am Objekt, was zu endlosen Debatten und Auseinandersetzungen vor Gericht führen kann, aber jenseits des Objekts existiert ein Netzwerk an Kollaborationen, an dem wir im Sinne einer dekolonialen Archäologie weiterknüpfen sollten.
 
Was meinen Sie damit?

 
Wir sollten mit diesem Paternalismus aufhören, auf dessen Grundlage Europa sich als Mittelpunkt der Welt fühlt, und einen echten Austausch von Gedanken und Transfer von Personen ermöglichen. Das Objekt ist conditio sine qua non, damit Forschung möglich ist – aber bis zu welchem Punkt sind wir bereit, unsere Forschungsdaten mit anderen zu teilen, allen Zugang zu unseren Archiven und Datenbanken zu gewähren, echte Mobilität zuzulassen? Ich träume von einem Experiment: Wir stellen die Objekte einem bestimmten Land auf dem afrikanischen Kontinent für fünf Jahre als Leihgabe zur Verfügung, verursachen also eine koloniale Wunde unter umgekehrten Vorzeichen und sehen uns an, was passiert, wenn wir die Bevölkerung von Objekten trennen, mit denen sie sich identifiziert, indem wir diese jenen geben, denen wir sie weggenommen haben. Das könnte einen Perspektivenwechsel ermöglichen.
 
Ich versuche es ebenfalls mit einer provokanten Frage: Ist das Ägyptische Museum für die Italiener ein Ort, mit dem sie sich identifizieren?
 
Ich kann Ihnen mit einer Zahl aus der Zeit vor Corona antworten. Mit 900.000 Besuchern war das Ägyptische Museum das meistbesuchte Museum Italiens. Es ist Teil der Geschichte dieser Stadt, dieser Region, dieses Landes. Mit Ihrer Frage weisen Sie auf einen extrem wichtigen Punkt hin: Wenn kulturelles Erbe gestohlen wurde, es das Land auf illegalem Weg verlassen hat, ist es richtig, dass diese Wunde geheilt wird. Aber allzu oft vergessen wir, dass das Leben eines Objekts weitergeht, auch auf musealer Ebene. Ein Museum ist kein leeres Behältnis, es ist vielmehr eine Art physische Enzyklopädie, die Wissen systematisiert und mit der wir über Erinnerungsfragmente aus der Vergangenheit in Beziehung treten. Wenn wir nun beschließen, ein Museum an einen anderen Sitz zu verlegen, zuzusperren, zu verändern, schließen wir nicht einfach eine leere Schachtel, sondern lösen einen Ort auf, an dem das Objekt eine bestimmte Funktion hat.
 
Eine wichtige Rolle spielen auch wirtschaftliche Aspekte. Das Prestige, das mit den gestohlenen Objekten verbunden ist, bedeutet einen entsprechenden finanziellen Gewinn. Ist es nicht legitim, zu versuchen, diese Objekte an ihren Ursprungsort zurückzuführen?
 
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Louvre, das Metropolitan und das British Museum sind lokal verwurzelte Unternehmen, die in den vergangenen Jahren strategisch sehr stark waren – vor allem in den Bereichen Forschung, Sensibilisierung, Positionierung auf dem Markt, Kommunikation. Auf diese Weise wurde der Louvre zu einer bedeutenden Marke, die sich sogar in Abu Dhabi verkaufen lässt. Ein Beispiel: Wir erinnern uns alle an den Streit um die Venus von Morgantina, die zu Recht an Italien restituiert wurde, weil sie gestohlen worden war. Sie war letztlich im Metropolitan gelandet, es hatte einen langjährigen Rechtsstreit gegeben und schließlich gelang es, die Venus glücklich nach Sizilien zurückzuholen. Aber das dortige Museum hat nur wenige Besucher. Das ändert nichts daran, dass die Rückkehr der Venus nach Italien legitim war, aber ich denke, dass wir uns nicht von wirtschaftlichen Überlegungen leiten lassen sollten. Die Objekte sind wichtig, weil sie eine Wunde heilen, die durch den Entzug entstanden ist, durch den Verlust einer Identität, die sich auch über Objekte definiert. Wir erleben das auf einer einfachen Ebene, wenn wir auf einer Reise unseren Koffer verlieren und uns verloren fühlen, weil wir unsere Sachen nicht bei uns haben. Die Rückgabe der Werke ist wichtig, aber sie darf nicht als wirtschaftliches Allheilmittel betrachtet werden. Der Louvre in Abu Dhabi hat eine Marke und ein wunderschönes Gebäude, es wurde viel investiert. Jetzt muss er sich seinen Platz auf dem Markt erkämpfen. Er zählt inzwischen fast eine Million Besucher, aber bestimmt keine 10 Millionen wie der Louvre in Paris, und wahrscheinlich wird er diese Zahl auch nie erreichen.
 
Gibt es Aktivitäten des Ägyptischen Museums, auf die Sie stolz sind, die aber gewöhnlich nicht zur Sprache kommen?
 
Ich fände es schön, wenn darüber berichtet würde, dass das Ägyptische Museum wieder Ausgrabungen durchführt. Ich fände es auch schön, wenn darüber berichtet würde, dass wir eine Zeitschrift haben, die auch online erscheint. Dass wir unsere wissenschaftliche Publikationstätigkeit wieder aufgenommen und zwei Bände herausgebracht haben: einen über die Ausgrabungen in Assiut und einen weiteren über eine anthropologische Studie zu Mumien. Ich würde gern davon erzählen, dass ich die Bibliothek „reaktiviert“ habe. Die stand praktisch still, aber uns ist es gelungen, sie mit einem Jahresbudget von 40.000 Euro auszustatten und wieder zu einem lebendigen Ort zu machen, an dem Studierende lernen und ihre Abschlussarbeiten schreiben können. Ich würde gern davon erzählen, dass wir ein neues Büro haben, das sich um unseren Bestand kümmert und das es vor meiner Zeit hier nicht gab. Es umfasst die Abteilung Collection Management, in der fünf Personen beschäftigt sind, sowie eine Arbeitsgemeinschaft, die das kontinuierliche Monitoring der Sammlungen übernommen hat. Über diese Einrichtungen wird nicht so viel gesprochen, aber sie bilden das Rückgrat eines Museums.
 
Was denken Sie als Italiener, warum wird dem ägyptischen Bestand in Italien große Aufmerksamkeit geschenkt, während die jüngere Geschichte des italienischen Kolonialismus am Horn von Afrika kaum thematisiert wird?
 

Im Rahmen des Festivals Alles vergeht, außer der Vergangenheit wurde viel über Wunden gesprochen. Mich fasziniert das Beispiel der Stadt Berlin, die sich inzwischen praktisch zur kulturellen und intellektuellen Hauptstadt Europas etabliert hat. Dort ist es gelungen, die Wunden des zweiten Weltkriegs in das neue Stadtkonzept zu integrieren. Das Holocaust-Mahnmal ist nur wenige Schritte vom Bundestag entfernt – das ist eine starke Botschaft: Die aktuelle Führung erinnert sich an die Wunden und Ereignisse der Vergangenheit. Mein Eindruck ist, dass unser Land sein Geschichtsbewusstsein verloren hat und nicht zur Selbstanalyse imstande ist. Hier wartet noch viel Arbeit auf uns und ich denke, dass die Museen, die an vorderster Front stehen, zu einem Bindeglied zwischen vergangenen und künftigen Generationen werden müssen. Ihre Aufgabe ist es, einen kritischen Blick auf die Vergangenheit zu werfen, um in Folge ein besseres Verständnis der Gegenwart zu ermöglichen.

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