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Die Alternative ist gar keine
Stillstand ist Rückschritt ist Fortschritt

Stillstand ist, so oder so, ein schlechtes Zeichen, denn stillstehen kann nur, was eigentlich fortschreiten soll. Da es jedoch kein Ziel mehr abseits des Fortschritts gibt, gibt es immer bloß Fortschritt, und insofern bleibt – bei aller Veränderung – alles stets gleich. Das Rad der Geschichte rollt ohne Rücksicht auf Verluste ungehemmt weiter in eine bessere Zukunft, die doch niemals eingeholt wird.

Von Dirk Braunstein

Das Internet, noch vor Weltraumfahrt, Breitbandantibiotika und beheizbaren Klobrillen gegenwärtig die Manifestation technischen Fortschritts, weiß zu berichten, die Redeweise „Stillstand ist Rückschritt“ gehe auf Rudolf von Bennigsen-Foerder zurück, seinerzeit Vorstandsvorsitzender der VEBA Aktiengesellschaft; jenes großen deutschen Energiekonzerns, der mittlerweile unter dem aber schon äußerst fortschrittlichen Namen E.ON sein Wesen treibt. Tatsächlich findet sich jene Wendung allerdings bereits bei Fontane. Die Titelheldin seines Romans Mathilde Möhring plaudert die tiefere Wahrheit des Satzes bündig aus: „Stillstand ist Rückschritt, sagte mein Vater das Jahr vor seinem Tode, als er keine Weihnachtszulage gekriegt hatte.“

Um es kurz zu machen, die Phrase geht zurück auf die im 14. Jahrhundert vom Dominikanermönch Bonjohannes von Messina verfasste Fabelsammlung Speculum sapientiæ. Dort heißt es: „Si steteris, retrocedis“, auf Neudeutsch etwa: Wer bremst, verliert! – hier beim Rennen um einen Platz in der himmlischen Glückseligkeit, nach dem Willen des neoliberalen Topmanagers beim Rennen aller gegen alle. Stillstand ist, so oder so, ein schlechtes Zeichen, denn stillstehen kann nur, was eigentlich fortschreiten soll, und so weiß ein wiederum anderer Stillstandsskeptiker über die Segnungen des Fortschritts zu berichten: „Wer sich den aus einmal gegebenen Tatsachen resultierenden Folgen verschließt, bleibt eben in der Zeit zurück. Menschen, welche dies tun, gab es zu allen Zeiten und wird es auch in der Zukunft immer geben. Sie können jedoch das Rad der Geschichte kaum hemmen, niemals zum Stillstand bringen.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, Band 2)

Wer zufälligerweise noch nicht vom Rad der Geschichte – der Fortschritt will es nun einmal so – überrollt worden ist, wird lernen müssen, dass Fortschritt und Stillstand normative Begriffe sind, die ihre Normativität nicht weiter ausweisen müssen, weil die Menschenfeinde aller Länder sich getrost darauf verlassen können, dass man sie recht versteht: Fortschritt super, Stillstand doof.

Fortschritt super, Stillstand doof

Diese einfache Gegenüberstellung von Fortschritt und Stillstand, Dynamik und Statik, vorwärts und zurück lässt sich mühelos als widervernünftig erkennen: Ein wirklicher Fortschritt machte sich ein für alle Mal überflüssig, weil er sein Ziel erreichte. Da es jedoch kein Ziel mehr abseits des Fortschritts gibt, gibt es immer bloß Fortschritt, und insofern bleibt, bei aller Veränderung, alles stets gleich, das Rad der Geschichte rollt ohne Rücksicht auf Verluste ungehemmt weiter in eine bessere Zukunft, die doch niemals eingeholt wird: „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ (Walter Benjamin) Während die Menschen unter dem stagnierenden Fortschritt leiden, wird sein Unwesen immer offensichtlicher: Fortschritt ist gar nicht super, er ist bloß normal. „Stillstand ist Rückschritt.“ Derlei Rede wird von denen, die ihre Fortschrittsgläubigkeit noch je als Siegesgewissheit genießen durften, in Form einer Kalenderspruchweisheit hinuntergereicht an die Verlierer*innen der Geschichte, die zwar gezwungen sind, ein Leben im Dauerstillstand zu führen, sich aber immerhin daran ergötzen mögen, ihn in der fortschrittlichsten aller Gesellschaften zu erleiden. Und natürlich mag es gut oder immerhin bequem sein, im fortschrittlichen Hier und Jetzt zu leben. Das allerdings haben die Menschen zu allen Zeiten empfunden; ein Fortschritt in dieser Hinsicht dürfte schwerlich zu verzeichnen sein.

Fortschritt als Prozess ist eins mit Stillstand

Damit Fortschritt anderes würde als ein Fortschreiten der Zeit, während Herrschende Beherrschten erklären, wie sie ihre Geschichte zu begreifen haben, wird es nicht ausreichen, sich der Alternative von Stillstand und Fortschritt zu verweigern. Es geht an dieser Stelle nicht um die Absage an einen Fortschrittsglauben, wie ihn Nationalsozialist*innen, Neoliberale und andere Vertreter*innen „dieser Menschensorte, die mit dem Vorsatz, daß was g’schehn muß, so viel Stillstand unter die Leut’ gebracht hat“ (Karl Kraus), teilen. Es geht darum, dass die Alternative gar keine ist, sondern Ausdruck einer Ideologie. Die Idee, es gebe seit hundert oder 2.000 Jahren oder seit Menschengedenken einen Fortschritt, blamiert den Begriff des Fortschritts. Fortschritt als Prozess ist eins mit Stillstand. Nicht dieser ist das Gegenteil von jenem, sondern das Ende der angeblich fortschrittlichen Geschichte wäre es. Was nottäte, wäre ein Bruch, der jene Geschichte, die bis heute nur Vorgeschichte, blindes „weiter so“ ist, endlich in eine von Menschen vernünftig gestaltete Geschichte überführte, die ihren Namen auch verdiente.

Das alles mag reichlich breitbeinig und pseudorevolutionär daherkommen. Nur ist es blöderweise wirklich so, dass es keine andere Alternative gibt, die nicht wieder bloß Ideologie wäre: die von Revolution und dem alten und immer älter werdenden Fortschritt im Stillstand.

Dies zu schreiben, hilft freilich auch noch nicht weiter, denn es wäre Sache der Praxis ...

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