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Deutschland in Italien
​Italien und Deutschland? Wir leben auf demselben Fleckchen Erde

Karl Hoffmann
Karl Hoffmann | © Foto: privat

Wir sollten anfangen zu verstehen, dass auch die nächsten Generationen auf diesem Fleckchen Erde zusammenleben müssen. Europa muss geeint sein und begreifen, dass auch aus dieser Pandemie ein neues Bewusstsein erwächst, eine neue Vision unserer gemeinsamen Zukunft.

Von Maria Grazia Pecchioli

Für unser Interview treffen wir Karl online. Er ist in den Marken und bei der Arbeit, widmet uns aber einen Teil seiner Zeit. In Wirklichkeit handelt es sich um ein angenehmes Gespräch über Europa und unsere beiden Länder, Deutschland und Italien.
 
Sie leben seit einigen Jahrzehnten in Italien. Können Sie uns sagen, wie sich Italien in dieser Zeit verändert hat? Und hat sich das Bild verändert, das die Italiener*innen von Europa haben?
 
Wie sich Italien verändert hat? Sehr verändert hat es sich. Das waren vier epochale Jahrzehnte mit unvorstellbaren Umwälzungen. Zunächst haben wir den Mauerfall erlebt, dann folgte in Italien eine lange Phase, in der es politisch drunter und drüber ging, die Berlusconi-Zeit, dann kam der Populismus auf. Von da an hat eine Art von Verfall eingesetzt. Sagen wir, die Sicht der Italiener*innen auf Europa hat sich folgendermaßen verändert: Am Anfang stand ein Ideal, Europa, das dann zur Öffnung Italiens gegenüber allen anderen Ländern geführt hat; es gab Handel und viel Tourismus, das war in den Sechziger-, Siebziger-, Achtzigerjahren wichtig. Im Anschluss ist Europa aber ein wenig zum Sündenbock geworden, wie gesagt bedingt durch den wachsenden Populismus, der alle Übel, unter denen Italien litt, auf das „verdammte Europa“ schob, das immer Haushaltsdisziplin, unpopuläre Dinge verlangte. Und das hat die italienische Politik für ihre Zwecke genutzt. In der Pandemie hat sich jetzt alles verändert, nun hofft man, dass Europa Italien in dieser Krise rettet. Das ist sicherlich eine etwas opportunistische Wendung, aber so ist es fast überall: Geht es um Europa, dann sehen die Länder das, was sie brauchen, was von Nutzen ist, und davon abgesehen betreiben sie weiterhin eine sehr stark national ausgerichtete Politik.
 
Sie sagten, Europa habe Italien in mancher Hinsicht verändert. Ist es Italien wiederum gelungen, Sie zu verändern? Können Sie uns einen Aspekt Ihrer Persönlichkeit nennen, der besonders italienisch geprägt ist?
 
Nach all diesen Jahren in Italien bin ich eher Italiener als Deutscher. Ich befinde mich in einem Zwischenzustand. Auf persönlicher Ebene bin ich kein Deutscher mehr, aber ich bin auch kein echter Italiener. Mit den Jahren bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Ich bezeichne mich als Bürger Europas, von deutscher Herkunft und mediterraner Kultur. Ich habe sehr viel zum Thema Immigration gearbeitet. All denjenigen, die mir im Gespräch sagen, die Immigration sei ein aus dem Süden, aus Afrika kommendes Übel, antworte ich, dass auch ich ein Einwanderer bin, sicher einer, der hier erwünschter, „akzeptierter“ ist. Daher verstehe ich mich immer sehr gut mit den Einwanderern aus Afrika, aber auch mit den italienischen Einwanderern, die viele Jahre lang in Deutschland gearbeitet haben und dann im Alter nach Italien zurückgekommen sind. Vielleicht ist das eine neue Art des Lebens und der Kultur, die sich hier entwickelt. Ich hoffe, dass unsere Kinder, und unsere Kindeskinder, dieselbe Erfahrung machen und die Karten in Europa neu mischen.

Immer weniger Unterschiede zwischen den beiden Ländern

Sind die Karten Ihrer Ansicht nach schon zu Genüge gemischt? Ergibt es noch Sinn, von Unterschieden zwischen der deutschen und der italienischen Kultur zu sprechen?
 
Karl Hoffmann © Foto: privat Heute besteht sicherlich noch ein Unterschied, ein grundlegender Unterschied, der aus der Geschichte erwächst. Man muss aber auch sagen, dass Deutschland und Italien in Wirklichkeit viel mehr gemeinsam haben als man, vor allem in Italien, sehen will. Die verhängnisvolle Geschichte des Faschismus, der in Italien entstanden ist und hier nie wirklich aufgearbeitet wurde, während man in Deutschland viele Anstrengungen unternommen hat, um vorwärtszukommen und sich von diesem Teil der Geschichte zu lösen. Aber es gibt sehr viele Unterschiede, etwa klimatische Unterschiede. Wenn ich mit meinen deutschen Kolleginnen und Kollegen über Italien sprechen, beneiden sie mich immer. Dann unterscheiden sich Italien und Deutschland darin, welchen Stellenwert das Essen hat, wie man Auto fährt, wie die Gesetze befolgt werden und die Staatsgewalt wahrgenommen wird. Diesbezüglich gibt es sicher noch beträchtliche Unterschiede. Obwohl inzwischen sehr viele junge Italiener nach Deutschland gehen und lernen, sich dort zurechtzufinden. Und es gibt viele deutsche Rentner, die beschließen, nach Italien zu ziehen, die Italien lieben, weil die Menschen hier anders sind, weil sie geselliger, fröhlicher sind. Aber die Unterschiede werden mit der Zeit kleiner. In zwei, drei oder vier Generationen wird es wahrscheinlich vieler dieser heute noch bestehenden Unterschiede nicht mehr geben.

Europa ist von wesentlicher Bedeutung für Italiens Zukunft

Das Programm des deutschen EU-Ratsvorsitzes sieht unter anderem Solidarität, gemeinsames Wachstum, Innovation vor. Wie wird dieses neue Europa Ihrer Ansicht nach von den Italiener*innen wahrgenommen?
 

Selbstverständlich sieht man die Bedeutung eines geeinten Europas. Ich glaube nicht, dass sich jetzt Europas Zukunft entscheidet, allenfalls geht es um ein neues Zukunftsszenario. Das hängt womöglich weniger von der Pandemie ab als von der wirtschaftlichen, der ökologischen Entwicklung, und die ist global. Sie entscheidet sich wahrscheinlich nicht so sehr in Europa als vielmehr in Amerika oder in China. Dennoch denke ich, dass die wichtige Rolle Europas auch in Italien Eindruck gemacht hat: Europa hat neue Entscheidungen getroffen, hat vor allem verstanden, dass die Rettungsmanöver in dieser Pandemie alle Spielräume ausschöpfen müssen. Nun muss man aufpassen, Europa nicht mit Aufgaben zu überlasten, die eigentlich Italien betreffen. Es ist wahr, dass Europa dabei helfen kann und muss, diese Krise zu bewältigen, aber es ist ebenso wahr, dass in erster Linie auch in Italien grundlegende Veränderungen erfolgen müssen, auf institutioneller Ebene, politischer Ebene, indem man die kleinteiligen Grabenkämpfe überwindet. Italien muss sich sicherlich an eine größere Dimension anpassen, eben an Europa, und das haben mit Sicherheit schon viele verstanden, vor allem viele Unternehmer, die genau wissen, dass sie ohne Europa, ohne einen gemeinsamen Markt innerhalb des globalen Marktes nicht weiterkommen. Europa ist von wesentlicher Bedeutung für Italiens Zukunft, viele Italiener wissen das. Auch wenn man in der Politik noch um kleine Einflussbereiche kämpft.

Gemeinsam können Italien und Deutschland Vieles erreichen

Können Deutschland und Italien einen Beitrag zur Stärkung Europas leisten, angesichts neuer Herausforderungen, die mit einer fortdauernden Pandemie einhergehen könnten, wie etwa ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit, eine Verschärfung der sozialen Unterschiede, eine Ausgrenzung der schwächeren Schichten?
 
Ich denke, dass es viel mehr Dinge gibt, die Italien und Deutschland gemeinsam haben, als Dinge, die uns trennen. Verbindet man die deutsche Ordnung, den Hang zur Systematik, der in Deutschland sehr ausgeprägt ist, mit dem kreativen Charakter der Italiener, dann hat das oft Erfolg. Das sehe ich in vielen Zweigen der Wirtschaft und der Industrie, wo Joint-Ventures sehr gut funktionieren, und es ist auch so, dass die Deutschen, die deutsche Politik Italien immer recht wohlgesonnen waren. Vielleicht muss sich auch die Art und Weise, wie von Italien aus auf Deutschland geblickt wird, ein wenig ändern. Was die italienischen Zeitungen über Deutschland schreiben, entspricht oft nicht ganz der Realität. Es gibt noch viele Vorurteile, die überprüft, analysiert und gegebenenfalls aus dem Weg geräumt werden sollten, wenn man sieht, dass auch Deutschland sich verändert hat.

Gemeinsam können wir vieles erreichen, aber ohne eine entschiedene Politik, die die enormen Unterschiede zwischen Arm und Reich beseitigt, wird es in der Zukunft kein Wachstum geben, auch nicht in Deutschland. Sowohl in Deutschland als auch in Italien gibt es einerseits Reiche, mit enormen Vermögen und großem Einfluss, und andererseits sehr viele Menschen, denen es schlecht geht. Vor allem in dieser Pandemie, und auch danach wird es ihnen sehr schlecht gehen. Ich denke, es ist wesentlich, dass diese Unterschiede eingedämmt werden, daran müssen wir arbeiten. Beide Länder müssen gemeinsam große Anstrengungen unternehmen. Ich glaube, das ist von großer Bedeutung und betrifft auch alle anderen europäischen Länder.

Wir müssen uns immer vor Augen halten: Italien und Deutschland scheinen vielleicht weit voneinander entfernt, aber im Vergleich zu China, zu Südamerika sind wir uns sehr nah, wir leben auf demselben Fleckchen Erde, und das ist recht klein. Wir sollten anfangen zu verstehen, dass auch die nächsten Generationen auf diesem Fleckchen Erde zusammenleben müssen, und das wird alles andere als einfach. Europa muss zusammenfinden und geeint sein, und begreifen, dass auch aus dieser Pandemie ein neues Bewusstsein erwächst, eine neue Vision unserer gemeinsamen Zukunft.

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