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Völkermord in Namibia
Deutsch-namibisches „Versöhnungsabkommen“

Das Genozid-Denkmal zeigt einen Mann und eine Frau mit gereckten Fäusten sowie gebrochene Ketten an den Handgelenken.
Das Genozid-Denkmal in Windhoek, Namibia, erinnert an die Opfer des Kolonialkrieges von 1904 bis 1908. | Foto (Detail): Thomas Sbampato © picture alliance / imageBROKER

Im Juni 2021 gaben die deutsche und die namibische Regierung ihre gemeinsame Erklärung zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen im heutigen Namibia bekannt. Erstmals verhandelten zwei Staaten über Reparationen für den Kolonialismus. Leider wurde diese historische Gelegenheit nicht ergriffen. Versucht die Bundesregierung, sich durch eine spezifische Auslegung des Rechts gezielt aus der Verantwortung zu stehlen?

Von Sarah Imani und Karina Theurer

Eine der zentralen rechtlichen Fragen im Hinblick auf Reparationen ist, ob die Tötung größter Teile der Bevölkerung der Ovaherero und Nama, zunächst durch Vernichtungsfeldzüge wie die des General von Trotha, aber auch durch die spätere Errichtung von Konzentrationslagern, als Völkermord einzuordnen ist. Hochrangige Menschenrechtsvertreter*innen wie die UN‑Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet bezeichnen diese Kolonialverbrechen schon lange eindeutig als Völkermord. Auch der Wortlaut des Übereinkommens vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide) spricht dafür. In Artikel 2 (Auszug) heißt es:

„In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in
der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe
als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern
der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet
sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (…)“
 
Die deutsche Bundesregierung jedoch windet sich semantisch zwischen einer symbolischen „Geste der Anerkennung“ und einer Anerkennung des „Völkermordes aus heutiger Perspektive“. Letztgenannter Begriff steht im engen Zusammenhang mit einer spezifischen Auslegung des rechtlichen Grundsatzes der Intertemporalität. Ist das nun Formaljuristerei oder versucht sie gezielt, an kolonialem Recht festzuhalten, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen?  

„Völkermord aus heutiger Perspektive“

In der gemeinsamen Erklärung heißt es: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkrieges verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden.“ Im Weiteren ist im Text dann nur noch von einer „moralischen Verpflichtung“ oder einer „moralische[n], historische[n] und politische[n] Verpflichtung“, sich zu entschuldigen, die Rede. Was hat es also mit dem Begriff des „Völkermordes aus heutiger Perspektive“ auf sich?  

Völkermord wird häufig als unübertroffenes völkerrechtliches Verbrechen gesehen, um zu verdeutlichen, wie sehr ein Völkermord die Menschlichkeit als Ganzes betrifft und bewegen sollte. Eine Tat also, deren Verfolgung im „Interesse der Gerechtigkeit“ liegt und „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berührt“ wie es spätestens im Statut des Internationalen Strafgerichthofes (IStGH), dem zentralen Rechtsprechungsorgan völkerrechtlicher Strafjustiz, niedergelegt ist. Im Statut und bei Verfahren vor dem IStGH geht es im Gegensatz zur bereits genannten Völkermord‑Konvention um individuelle Strafverantwortlichkeit.

„Eine nicht eurozentrische, sondern dekoloniale Perspektive mit einbeziehender Auslegung des Prinzips der Intertemporalität zeigt deutlich, dass die Argumentation der Bundesregierung, dass es sich lediglich um einen „Völkermord aus heutiger Sicht“ handle, nicht zu halten ist.“

Im Kontext der Reparationen für die deutschen Kolonialverbrechen geht es allerdings nicht um individuelle Strafverantwortlichkeit, sondern um die Verantwortlichkeit des deutschen Staates, der ehemaligen Kolonialmacht. Die Verantwortlichkeit eines Staates ergibt sich aus der Bejahung des Vorliegens eines völkerrechtlichen Delikts („wrongful act“). Der Tatbestand des Völkermords ist ein solches völkerrechtliches Delikt. Die Rechtsfolgen eines solchen Delikts ergeben sich aus einem Text der International Law Commission (ILC): In den Draft Articles on the Responsibility of States for International Wrongful Acts (ARSIWA), und darin insbesondere in den Artikeln 34 und folgenden, sind Entschädigungen und Reparationen geregelt.

Um dieser völkerrechtlichen Verantwortlichkeit zu entgehen, kämpft die Bundesregierung so vehement um den Begriff des „Völkermords aus heutiger Perspektive“. Auf rechtlicher Ebene hält sie mit dieser Argumentation an einer spezifischen Auslegung des Prinzips der Intertemporalität fest.

Das Prinzip der Intertemporalität

Völkerrechtlich handelt es bei dem Prinzip der Intertemporalität um eine Doktrin, die in der völkerrechtlichen Rechtsprechung entwickelt wurde, genauer gesagt im Fall Isla de las Palmas 1928, einem Territorialstreit zwischen den Niederlanden und den USA. Bis heute nimmt sie einen zentralen Platz in der Reihe grundlegender völkerrechtlicher Prinzipien ein. Sie besteht aus zwei Grundsätzen. Im ersten Grundsatz kommt es grob gesprochen auf das Recht an, das zum Zeitpunkt des zu bewertenden Sachverhalts galt und nicht dasjenige, das zum Zeitpunkt des Rechtsstreits bezüglich des Sachverhalts gilt.

Der zweite Grundsatz spiegelt wider, dass das Völkerrecht sich beständig weiterentwickelt und im Wandel begriffen ist. Was heute Mehrheitsmeinung ist, kann schon bald durch Mindermeinung überwunden werden. Auch die damals als Mindermeinung gewertete Rechtsauffassung kann eine valide Auffassung in der Vergangenheit darstellen, an die heute angeknüpft werden kann. Auch die Entwicklung des Rechts muss aus heutiger Sicht berücksichtigt werden.

Erst 2019 stärkte der Internationale Gerichtshof (IGH) den zweiten Grundsatz, als das Gericht ein Gutachten („advisory opinion“) in dem Fall Großbritannien gegen Mauritius bezüglich der Insel Chagos abgab, die die Briten von Mauritius vor der Unabhängigkeit trennten. Weil das Selbstbestimmungsrecht der Einwohner*innen im relevanten Zeitraum gerade im Entstehen begriffen gewesen sei, könne sich die britische Regierung nicht formal darauf berufen, dass dieses Recht damals noch nicht existiert habe.

Eurozentrisches Völkerrecht der Vergangenheit?

Die deutsche Bundesregierung argumentiert, dass der Völkermord an den Ovaherero und Nama im rechtlichen Sinn nicht als solcher eingeordnet werden könne, weil das damals geltende Recht angewendet werden müsse und es keine rechtliche Norm gegeben habe, die einen solchen Tatbestand formuliert habe. Daher könne es auch keine rechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands nach den ARSIWA geben, weder was Entschädigungszahlungen betrifft noch selbst eine Pflicht zur Entschuldigung. Diese Auslegung des Prinzips der Intertemporalität berücksichtigt nicht ausreichend dessen zweiten Grundsatz.

Die Anerkennung völkerrechtlicher Verantwortlichkeit für Kolonialverbrechen im Fluss der Zeit

Eine Schlüsselrolle bei der Auslegung des zweiten Grundsatzes gerade bei der Bewertung von Kolonialverbrechen wie dem Völkermord sind die sogenannten kritischen „Third World Approaches to International Law“ (TWAIL). Natürlich ist hier vieles rechtsdogmatisch und -theoretisch komplexer, als es in einem Beitrag wie diesem dargestellt werden kann.

Ein Ansatzpunkt dekolonialer Argumentation in Bezug auf die Frage des Völkermordes und nach dem Prinzip der Intertemporalität ist etwa die Recherche, ob es nicht doch regionales (Völker-)Recht oder Verträge zwischen Kolonisierten und Kolonialisten gab, die schon damals die wesentlichen Tatbestandsmerkmale des Völkermords als rechtlich verboten normierten. Ein weiterer Ansatzpunkt dekolonialer Argumentation könnte sein, ob es nicht doch eine Verbotsnorm gab, die im Kontext einer Humanisierung des Kriegsrechts und in Anlehnung an die Martens‘sche Klausel sehr wohl totalitäre Vernichtungen im Sinne eines Völkermordes als rechtswidrig einstufte.

Zudem könnte man auch daran denken, dass selbst in der westlichen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts die Öffentlichkeit und die Völkerrechtswissenschaft der Legalität der Kolonialfeldzügen sehr wohl kritischer gegenüberstand, als die allgemeine Völkerrechtswissenschaft und Völkerrechtsgeschichte es darstellen. Dies muss Auswirkungen im Jetzt haben, sei es in der rechtlichen Bewertung als Völkermord oder aber, was die Formate der (rechtlichen) Verantwortlichkeit im Jetzt bedeuten.

„Die deutsche Bundesregierung jedoch windet sich semantisch zwischen einer symbolischen „Geste der Anerkennung“ und einer Anerkennung des „Völkermordes aus heutiger Perspektive“. [...] Ist das nun Formaljuristerei oder versucht sie gezielt, an kolonialem Recht festzuhalten, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen?“


Ohnehin stellt sich im Hinblick auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und spezifisch im Hinblick auf den regionalen Kontext des südlichen Afrikas die grundsätzliche Frage, warum ein sich damals erst entwickelndes europäisches Völkerrecht „plötzlich“ rückwirkend global angewendet werden sollte. Müssten bei stringenter Anwendung des ersten Grundsatzes des Prinzips der Intertemporalität nicht ohnehin primär Rechtsnormen der Ovaherero und Nama zur Prüfung herangezogen werden?

Koloniale Logik völkerrechtlicher Diskurse

Eine nicht eurozentrische, sondern dekoloniale Perspektive mit einbeziehender Auslegung des Prinzips der Intertemporalität zeigt deutlich, dass die Argumentation der Bundesregierung, dass es sich lediglich um einen „Völkermord aus heutiger Sicht“ handle, nicht zu halten ist. Hier geht es auch darum, die koloniale Logik gängiger völkerrechtlicher und völkerrechtspolitischer Diskurse zu entlarven und Ansätzen dekolonialer Rechtskritik zu folgen, um Lehren für die Zukunft zu ziehen. Manchmal bedarf es dazu auch der Wissenskonstruktion, eine epistemische Macht durch und im geltenden (Völker-)Recht der Vergangenheit und Gegenwart mit einem Blick aus der Zukunft infrage zu stellen, um dem Normzweck solch einer Fundamentalnorm wie dem Völkermordverbot gerecht zu werden. Reparationen wären ein Weg, den es gemeinsam zu gehen lohnt.
 
 

Literatur

  • ECCHR Stellungnahme Das „Versöhnungsabkommen– Eine vertane Chance (2021).
  • ECCHR Broschüre Colonial Repercussions: Namibia 115 Years after the Genocide of the Ovaherero and Nama (2019).
  • Steven Wheatly, „Revisiting the Doctrine of Intertemporal Law“. Oxford Journal of Legal Studies, Band 41, Nummer 2 (2021), Seiten 484–509.
  • Matthias Goldmann, „‚Ich bin Ihr Freund und Kapitän‘. Die deutsch-namibische Entschädigungsfrage im Spiegel intertemporaler und interkultureller Völkerrechtskonzepte“. MPIL Research Paper No. 2020-29 (August 2020).
  • Andreas von Arnauld, „How to Illegalize Past Injustice: Reinterpreting the Rules of Intertemporality“. MPIL Research Paper No. 2020-49, (Dezember 2020). Erscheint demnächst in: European Journal of International Law.
  • Martti Koskeniemmi, „Geschichten des internationalen Rechts: der Umgang mit Eurozentrismus“ in: Wolfgang Kaleck & Karina Theurer (Hrsg.) Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Nomos 2020, Seiten 121–158.
  • Mieke van der Linden, The Acquisition of Africa – The Nature of International Law, Brill 2016.
  • Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide General Assembly resolution 260 A (III) of 9 December 1948 Entry into force: 12 January 1951.
  • Außenminister Maas zum Abschluss der Verhandlungen mit Namibia 28.05.2021 – Pressemitteilung  
  • ICJ, Advisory Opinion, Legal Consequences of the Separation of the Chagos Archipelago from Mauritius in 1965, (25. Februar 2019).

 

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