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Ausgesprochen … gesellig
Kuchen und Corona

Obdachlose Frau
Die Straßen leeren sich zusehends, nur eine Obdachlose schiebt mühsam ihre Sachen durch die Fußgängerzone. | Foto (Detail) Dan Burton; © Unsplash

Die Welt ist aus den Angeln, kaum ein Mensch auf der Straße. Sind es diese Umstände, die einem Geschäftsmann und einer Obdachlosen zu einem ungewöhnlichen Erlebnis verhelfen?

Von Maximilian Buddenbohm

Eine Obdachlose schiebt mühsam ein Wägelchen durch die Fußgängerzone in der Innenstadt. Es ist wüst beladen mit unendlich viel Zeug, das man kaum definieren kann. Vielleicht ist es auch einfach Müll, zumindest aus der Sicht anderer Menschen. Tüten und Taschen, Päckchen und Schachteln und Kleidungsstücke und Schuhe, Plastikfolie, Pappe, Zeitungen und viele Schnüre und Gurte, die das alles kaum noch zusammenhalten. Die Frau ist gerade konzentriert damit beschäftigt, ihren Besitz neu zu ordnen. Sie nimmt da etwas aus der Menge und steckt es dort wieder hinein, überlegt es sich neu und sucht einen anderen Platz, ganz akribisch macht sie das. Vielleicht hat es System und Ordnung, was sie da macht, vielleicht macht sie es aber auch den ganzen Tag und es ist einfach nur Wirrnis, alles wird von links nach rechts und zurück gesteckt, wer weiß. 

Es sind nur noch wenig Menschen unterwegs

Es ist einer der ersten Abende von Corona. Es sind nur noch wenig Menschen in der Stadt unterwegs, die Straßen leeren sich zusehends. Sie werden wochenlang leer bleiben und die Menschen werden Abstand voneinander halten. In diesen Stunden wird gerade ein Zustand erreicht, der auf den ersten Blick als nicht mehr normal zu erkennen ist. An diesem Wochentag und zu dieser Uhrzeit so wenig Menschen mitten in der Stadt – hier stimmt etwas nicht. Die Obdachlose, so kann man annehmen, bemerkt das wahrscheinlich nicht einmal, sie ist viel zu beschäftigt mit ihrem Hab und Gut.
 
Ein vorbeihastender Geschäftsmann im Anzug sieht die Frau und bremst abrupt seinen Lauf. Er sieht sich hektisch um, entdeckt einen Bäcker, rennt kurzentschlossen hinein, kauft ein Stück Kuchen und geht schnellen Schrittes zu der Obdachlosen, wobei er murmelnd auf seine Uhr sieht und den Kopf schüttelt. Er scheint wirklich sehr spät dran zu sein und was er da macht, das ist sicher gänzlich ungeplant. Er reicht die Papiertüte mit dem Kuchen der Frau zu, die ihn aber nicht sieht, so sehr ist sie mit ihrem Zeug und dem maroden Wägelchen beschäftigt. Sie sieht auch nicht hoch, als er sie mehrfach und immer lauter anspricht. Schließlich legt er den Kuchen einfach lachend oben auf den wackeligen Berg von undefinierbaren Dingen, ruft ihr noch etwas zu und eilt dann weiter. Sie merkt nichts davon. 

Eine Kusshand ins Ungefähre

Erst als sie sich endlich wieder aufrichtet, sieht sie die neue Tüte da oben. Sie nimmt sie und macht sie ganz vorsichtig auf. Sie sieht hinein und hat dann auf einmal ein so strahlendes Lächeln im Gesicht, diesen Ausdruck kennt man von Kindergeburtstagen, wenn das Geschenk genau richtig war. Sie sieht sich um, wer mag ihr das denn bloß geschenkt haben? Sie dreht sich, aber da ist ringsum niemand mehr in der Nähe, der das gewesen sein könnte, und sie wirft, immer noch voller Freude und sichtlich beglückt, eine Kusshand in kreisender Bewegung ins Ungefähre. Der Geschäftsmann ist schon weit hinten, er entfernt sich gerade aus dem Bild und wird gleich im Hauptbahnhof verschwinden. Er merkt nichts davon. 
 
Diese Szene hat, das sei zugegeben, weder eine Pointe noch eine Moral. Es ist einfach nur etwas, das da draußen passiert ist, und ich habe es gesehen. Vielleicht ist es wichtig, so etwas zu erzählen. Vielleicht ist es nicht wichtig, ich weiß es nicht. Es ist auch für mich die erste Corona-Krise.

 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Qin Liwen, Dominic Otiang’a und Gerasimos Bekas. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen. 

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