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Leipzig: 1. Teil
Leipzig ist das neue Leipzig

La Stazione Centrale di Lipsia
© Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

Leipzig wird gern mal als „das neue Berlin“ bezeichnet. Die Großstadt punktet mit einer jungen, lebendigen Kulturszene und verzeichnet ein beständiges Bevölkerungswachstum. Im ersten Teil seiner Reportage erkundet Roberto Sassi einige der bedeutendsten Orte der sächsischen Stadt.

Von Roberto Sassi

STADT DER BÜCHER

Die Fahrt mit dem Zug von Berlin nach Leipzig ist kurz. Von einem Hauptbahnhof zum anderen benötigt man eine gute Stunde. So lange, wie es in etwa dauert, um die deutsche Hauptstadt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von Norden nach Süden zu durchqueren. Ich breche an einem Vormittag Ende Februar auf, die Luft ist schneidend kalt. Im Intercity sitzen viele Pendler, ihre bereits aufgeklappten Laptops vor sich auf den Tischen, sowie viele junge Menschen, vermutlich Student*innen auf dem Rückweg von einem Kurzurlaub in Berlin. Vor dem Fenster ziehen Wälder und Dörfer vorbei – eine Landschaft, die mir inzwischen bereits so vertraut ist, dass ich mich darauf beschränke, geistesabwesend nach draußen zu blicken. Um mir die Zeit zu vertreiben, blättere ich ein wenig in Im Stein, einem Roman des Leipziger Schriftstellers Clemens Meyer. Roberta Gado, die das Werk ins Italienische übersetzt hat und mit der ich am nächsten Tag für ein Interview verabredet bin, hat mir das Buch in ihrer Mail empfohlen. Meyer erzählt darin vom nächtlichen, kriminellen Leipzig, von Leipzig als unglücklichem Kind der Wiedervereinigung, ohne die Stadt je beim Namen zu nennen. Ich denke ein bisschen über diese interessante Entscheidung nach und frage mich, was ich von der Stadt, die Meyer beschreibt, zu Gesicht bekommen werde. Dann klappe ich den Roman wieder zu und betrachte weiter geistesabwesend die vorbeiziehende Landschaft.

Vor einigen Tagen kam die Meldung, dass die Buchmesse nicht stattfinden wird. Es ist die dritte Absage in Folge, die letzte Ausgabe fand 2019 statt, bevor die Pandemie die Welt aus den Fugen brachte. Doch dieses Jahr organisieren etwa sechzig Verlage eine kleinere Veranstaltung Ende März zum selben Termin, zu dem die offizielle Buchmesse hätte stattfinden sollen. Mich interessiert die Buchmesse, weil ich auch nach Leipzig fahre, um mich auf die Spuren der langen Verlagstradition der sächsischen Stadt zu begeben. Hier wurde 1825 der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, der älteste Interessenverband Deutschlands, gegründet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren in Leipzig rund 2.200 Verlage, Buchhandlungen, Buchbindereien und Druckereien ansässig, die meisten davon im Graphischen Viertel, das im Zuge der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg beinahe vollständig zerstört wurde.

VON DER ALTSTADT ZUR KARLI

Der Hauptbahnhof Leipzig befindet sich im Nordwesten des Zentrums. Das imposante, strenge Gebäude erstreckt sich über eine Länge von 298 Metern auf einem Willy Brandt gewidmeten Platz. Die Bezeichnung „Bahnhof“ greift jedoch zu kurz, vielmehr handelt es sich um ein Kondensat der Geschichte der Stadt. Als der Bau in seiner heutigen Form 1915 fertiggestellt wurde, galt er als größter Kopfbahnhof Europas. Wie viele andere deutsche Bahnhöfe wurde er infolge der Bombenangriffe der Alliierten in den Jahren 1943/44 schwer beschädigt und nach dem Krieg originalgetreu wiederaufgebaut.

Als der Zug am Bahnsteig hält, ist es beinahe Mittag. Mein erster Eindruck ist, in einem eleganten Einkaufzentrum gelandet zu sein, und in gewisser Hinsicht stimmt das auch: Seit der umfassenden Renovierung des Bahnhofs in den neunziger Jahren sind auf allen drei Ebenen Geschäfte untergebracht. Ich gehe ohne Eile in Richtung Ausgang, vorbei an Fahrgästen und Jugendlichen, die zum Einkaufen gekommen sind, und dann weiter in die Ritterstraße, die direkt in die Altstadt führt. Es ist ein Dienstagvormittag und auf den Straßen ist nicht viel los. Immer wieder verschwinden Passant*innen in die zahlreichen Passagen, die zwischen den Häuserblocks hindurchführen. Gebäude aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts und Bauten im DDR-Stil wechseln einander ab und sorgen für einen noch stärkeren architektonischen Kontrast als in anderen deutschen Städten. Der Grund dafür ist relativ einfach: Im Gegensatz zu glückloseren städtischen Siedlungen wurden in Leipzig während des Zweiten Weltkriegs „nur“ 20 % der Gebäude zerstört. Während ich über diese seltsame architektonische Mischung nachdenke, stoße ich auf die spätgotische Fassade der Nikolaikirche. Im Herbst 1989 war sie einer der wichtigsten Schauplätze der Friedlichen Revolution, die mit zum Fall der Mauer beitrug. Zur Erinnerung an die berühmten Montagsdemonstrationen steht auf dem angrenzenden kleinen Platz eine ungewöhnliche weiße, mit Palmwedeln gekrönte Säule, deren Gestalt den Säulen im Inneren der Kirche nachempfunden ist.
  • Wochenmarkt auf dem Marktplatz © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Wochenmarkt auf dem Marktplatz
  • Die Nikolaikirche und die Nikolaisäule auf dem Nikolaikirchhof © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Die Nikolaikirche und die Nikolaisäule auf dem Nikolaikirchhof
  • Der Eingang zum Campus der Universität Leipzig, Grimmaische Straße © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Der Eingang zum Campus der Universität Leipzig, Grimmaische Straße
  • Studenten in der Mittagspause auf dem Universitätscampus © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Studenten in der Mittagspause auf dem Universitätscampus
  • Ein Plattenladen im Peterssteinweg © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Ein Plattenladen im Peterssteinweg
  • Eine Straßenbahnhaltestelle in der Karl-Liebknecht-Straße © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Eine Straßenbahnhaltestelle in der Karl-Liebknecht-Straße
  • Das berühmte Schild VEB Feinkost Leipzig in der Karl-Liebknecht-Straße © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Das berühmte Schild VEB Feinkost Leipzig in der Karl-Liebknecht-Straße
  • Der Eingang zu einer ehemaligen Fabrik in der KarLi, die in ein Kulturzentrum umgewandelt wurde © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Der Eingang zu einer ehemaligen Fabrik in der KarLi, die in ein Kulturzentrum umgewandelt wurde
  • Jungs, die auf einem kleinen Platz neben der Karl-Liebknecht-Straße Basketball spielen © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Jungs, die auf einem kleinen Platz neben der Karl-Liebknecht-Straße Basketball spielen
  • Ein Blick auf das Graphische Viertel © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Ein Blick auf das Graphische Viertel
  • Das Reclam-Haus © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Das Reclam-Haus
  • Ein Plattenbau im Seeburgviertel © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi
    Ein Plattenbau im Seeburgviertel
Es ist Markttag und auf dem Marktplatz herrscht reges Treiben. Käufer*innen begutachten Obst und Gemüse und essen im Schatten des Alten Rathauses Currywurst. Ich schlendere zwischen den Ständen umher, schieße ein paar Fotos und beschließe dann, die Altstadt zu verlassen. Wenn Leipzig oft mehr oder minder als „das neue Berlin“ beschrieben wird, dann auch aufgrund seines alternativen Stadtviertels, der Südvorstadt, die sich rund um die Karl-Liebknecht-Straße erstreckt. Letztere ist hier auch unter dem Namen KarLi bekannt. Um dorthin zu gelangen, überquere ich den Universitätscampus am Augustusplatz, wo Student*innen auf niedrigen Mäuerchen im zarten Sonnenschein ihr Mittagessen verzehren, die gewaltige Glasfassade des City-Hochhauses im Rücken. Über 30.000 Hörer*innen sind an der Universität Leipzig, einer der ältesten Universitäten Europas, eingeschrieben und prägen das Stadtbild im Zentrum. Wie auch in der KarLi, die ich den Straßenbahngleisen folgend bis zu ihrem Ende entlanggehe, vorbei an veganen Cafés, Vintage-Läden, asiatischen Restaurants und alten Fabriken, die zu Kulturzentren umfunktioniert wurden. In den neunziger Jahren befand sich hier das „rebellische Leipzig“, das Leipzig der Hausbesetzungen und Clubs für elektronische Musik. Noch heute gilt die Südvorstadt als Kreativviertel, und doch hat sich die gesamte Stadt verändert und verändert sich weiter. Leipzig ist spürbar weniger arm als damals und verzeichnet ein starkes Bevölkerungswachstum: Im Jahr 2005 zählte die Stadt 500.000 Einwohner*innen, heute sind es noch einmal 100.000 mehr.

EINE ITALIENISCHE ÜBERSETZERIN IN LEIPZIG

Am nächsten Morgen begebe ich mich erneut auf die Spuren der „Buchstadt“ Leipzig. Ich mache mich auf ins Graphische Viertel, um zu sehen, wie viel von damals geblieben ist. Was einst das kulturelle Zentrum Leipzigs war, ist heute eine ruhige und völlig normale Wohngegend, nur wenige Gebäude haben die Bombenangriffe überlebt. Ich bleibe einige Minuten vor dem Reclam-Haus stehen, dem ehemaligen Sitz des 1828 von Anton Philipp Reclam gegründeten Verlags. Das Gebäude erinnert ein wenig an ein Brauhaus und beherbergt heute Büros diverser Unternehmen. Eine junge Frau, die gerade ihr Fahrrad neben dem Eingang abstellt, sieht mich mit dem Stadtführer in der Hand und fordert mich auf, einzutreten, aber der Eingangsbereich hält keine besonderen Überraschungen bereit.

Am frühen Nachmittag kehre ich zurück zum Hauptbahnhof. Dort bin ich mit Roberta Gado auf der Bahnsteigebene in einer Buchhandlung mit eigenem Café verabredet. „Ich denke, das ist ein passender Ort für deine Reportage“, hatte sie mir im Zuge unseres E-Mail-Austauschs geschrieben. Gado hat deutschsprachige Autoren wie Edgar Hilsenrath, Clemens Meyer und Arno Camenisch übersetzt, ist Leiterin eines Kulturzentrums und hat 2014 das Übersetzerzentrum der Leipziger Buchmesse mitbegründet. 1998 zog sie das erste Mal zu Forschungszwecken in die Stadt und blieb für zwei Jahre, 2011 kehrte sie dauerhaft nach Leipzig zurück. „Als ich hierherkam, war der Bahnhof gerade renoviert worden und hatte eine besondere Energie“, erzählt sie mir, während wir inmitten von Büchern eine Tasse Tee trinken. Ich gestehe ihr sofort mein Befremden in Bezug auf das von Meyer beschriebene Leipzig, das sich erheblich von der Stadt unterscheidet, die ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gesehen habe. „Leipzig ist eine vielseitige, lebenswerte und alles in allem internationale Stadt mit einer lebendigen alternativen Szene“, erläutert Gado. Dann fügt sie lächelnd hinzu: „Aber die im Roman beschriebene Stadt existiert, sie ist nur nicht so sichtbar.“

Nachdem wir die zwielichtigere Seite Leipzigs erörtert haben, verlagert sich unser Gespräch auf die Buchmesse und das Verlagswesen im Allgemeinen. Gado beschreibt eine Branche, die auch in den Jahren der DDR eine gewisse Bedeutung behielt und die für die lokale Wirtschaft sehr wichtig ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie darüber spricht, ist die von jemandem, der die Branche seit Jahren kennt. Während ich ihr zuhöre, muss ich an die vielen Buchhandlungen in der Altstadt denken, ihre große Dichte sticht geradezu ins Auge. Bevor wir uns voneinander verabschieden, frage ich sie, ob sie die Bezeichnung Leipzigs als „neues Berlin“ für zutreffend hält. „Der Vergleich ist nicht passend“, meint sie. „Leipzig ist eine andere Stadt, kleiner, mit einer eigenen Entwicklung und meiner Meinung nach bei weitem nicht so düster wie Berlin. Anfangs fühlten sich die Leipziger*innen von dieser Beschreibung irgendwie geschmeichelt, aber dann haben sie bald gemerkt, dass sie ihrer Stadt überhaupt nicht entspricht.“

(Fortsetzung folgt …)

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