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​„Die Lichtung“ von Antonia Kühn
Vom Vergessen und Vermissen

Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung)
Illustration aus La radura (Die Lichtung) | © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020

„Die Lichtung“ erzählt vom Tod einer Mutter, vom Schweigen, von der Unfähigkeit, sich mitzuteilen, von einer Leere, die scheinbar durch nichts gefüllt werden kann und stumm alles verschluckt. Paul ist noch ein Kind. In seiner Einsamkeit klammert er sich an das, was von seiner Familie geblieben ist, und an die Erinnerungen aus vergangenen Jahren. Laura, seine Schwester, rebelliert offen. Statt nach Hause zu kommen, hängt sie mit einer Bande Jugendlicher am See herum, die sich die Zeit mit kleinen Diebstählen und Alkohol vertreibt. Vater Karl versucht, mal hartnäckig, mal resigniert, den Weg zurück in ein normales Leben zu ebnen. Aber welche Normalität ist jetzt noch möglich?

Von Matteo Gaspari

Die Lichtung ist Antonia Kühns erste Graphic Novel. In Italien ist der Band vor kurzem bei Diabolo Edizioni erschienen.

Der Leere entfliehen

Eine Lichtung ist eine Fläche im Wald, die frei von Bäumen und hoher Vegetation ist und die Sonnenstrahlen hereinlässt. Sie ist eine Oase der Stille mitten in einem vielleicht sogar gefährlichen, undurchdringlichen Wald, der aus irgendeinem Grund genau an dieser Stelle ein Loch hat. Eine Lichtung ist folglich ein Nicht-Ort – definiert durch ein Nicht-Sein, durch das Fehlen von Bäumen – der dadurch zum Symbol für eine Abwesenheit, eine plötzliche Leere wird.

Paul ist zu jung, um sich im Detail an den Tod seiner Mutter erinnern zu können. Er versteht, dass sie sich umgebracht haben muss, und er versteht, dass dieses Ereignis alles verändert hat. Dass ihr Tod eine Lichtung in das inzwischen undurchdringlich gewordene Dickicht des „Lebens davor“ geschlagen hat, von dem nicht mehr als alte Fotografien und ein paar Briefe übrig geblieben sind.
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
  • Illustration aus <i>La radura</i> (Die Lichtung) © Antonia Kühn - Reprodukt 2018 / Diabolo Edizioni 2020
    Illustration aus La radura (Die Lichtung)
Dieses Gefühl der Leere, einer eisigen Distanz, durchdringt jede Seite, jeden Dialog, jede persönliche Beziehung, die ebenfalls  – wie eine Lichtung – durch ein Nicht-Sein definiert wird, durch etwas, das sein sollte, aber nicht mehr ist. Antonia Kühn beschreibt in ihrem Debüt mit chirurgischer Präzision den langen Schatten des Gespensts der Mutter, die nicht mehr da ist, sowie die langsame Zerrüttung jener, die diesem Gespenst nahestanden. Vater, Sohn und Tochter leben zwar in einer Wohnung, begegnen einander jedoch kaum, suchen einander, ohne sich je zu finden, sind sie doch nie gleichzeitig zu Hause. Es gelingt ihnen nicht, sich einander mitzuteilen, unschuldige, freundliche Gesten werden unweigerlich missverstanden und mit Groll und Empörung quittiert.

Aber bekanntermaßen hat jeder seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Teenagerin Laura lässt sich auf fragwürdige Bekanntschaften und Aktivitäten ein, während der kleine Paul in Schachteln mit alten Erinnerungen weniger nach dem Sinn des Ganzen als vielmehr nach diesem Gefühl von damals sucht, als sie noch alle zusammen ans Meer fuhren, tanzten, glücklich waren. Vor allem Karl weiß nicht wohin inmitten dieser Leere. Er versucht, gegenüber seiner Tochter und ihren häufigen nächtlichen Ausflügen verständnisvoll zu sein und gleichzeitig das Bedürfnis seines Sohnes nach Zuneigung und Erinnerungen an die Mutter zu stillen – gleich wie schmerzhaft dieser Rückblick auf das vergangene Glück sein mag. Aber das Gefühl der Leere bleibt, ebenso wie die Schachtel mit den bedeutungslos gewordenen Fotografien und die drei ständig leeren Schlafzimmer.

Vergessene Spielsachen und ein Glashaus

Dennoch beginnt diese Geschichte nicht mit einem Todesfall und auch nicht mit einer Leere, sondern mit einem Geschenk: einem Mobile für das Kinderbett, mit vielen kleinen Figuren und ebenso vielen Fäden. Bei einem Umzug verheddern diese Fäden so stark, dass die einzige Möglichkeit der Reparatur darin besteht, sie durchzuschneiden und neue anzubringen. Dabei vergisst Pauls Mutter jedoch eine Figur, die letztlich in der Ecke irgendeines Schranks landet.

Anhand dieser vergessenen Figur – stiller Zeuge des ebenso stillen Zerfalls der Familie – beschreibt die Autorin in Pastell- und Grautönen nicht nur die sich auflösende Beziehung Pauls zu seiner Schwester und seinem Vater, sondern verfremdet zugleich die erzählte Realität, indem sie der Figur vielschichtige metaphorische und systematisch symbolische Bedeutung verleiht. Es ist schwer zu sagen, ob sich Paul bewusst mit der Mobile-Figur identifiziert oder ob es der Blick des Lesers ist, der den Jungen mit dem tristen Objekt assoziiert. Fest steht, dass Paul oft ähnlich dargestellt wird: mit großem, rundem Kopf und schwarzem Schnabel, wie die Figur, die einst Teil des Mobiles über dem Kinderbett war. Ein Mobile, dem inzwischen unwiederbringlich etwas fehlt, so wie dem Leben seines, inzwischen groß gewordenen, kleinen Betrachters.

Diese Figur, die ausdrucksstark das in Pauls Gedankenwelt so zentrale fehlende Element repräsentiert und ihn in gewisser Hinsicht zugleich definiert, begleitet den Jungen bis in den Schlaf. In seinem Traum wächst Paul in einem Glashaus auf, dessen schützende Wände ihn von den Gefahren der Welt da draußen abschirmen. Das Glashaus repräsentiert dabei das Gegenteil einer Lichtung. Es ist ein künstlicher, blühender Ort, der sich durch Fülle – nicht durch Mangel – von seiner Umgebung abhebt und der definiert wird durch das, was er enthält. Doch wenn man in einem Glashaus aufwächst, besteht das Risiko, dass man zu groß wird, um es durch die kleinen Türen verlassen zu können, und mit diesem Bild endet sowohl das Buch als auch Pauls Traum. Der einzige Weg besteht darin, die warmen Glaswände hinter sich zu lassen und sich der Leere zu stellen, um zu versuchen, jene wiederzufinden, die diese Leere teilen. Zurück auf die Lichtung zu gehen also, die nicht nur ein Fehlen verkörpert, sondern auch einen Ort des unerwarteten Lichts, mitten in einem dichten Wald.
 
Antonia Kühn © www.cambourakis.com

Die Autorin

Antonia Kühn, geboren 1979 in Potsdam, studierte in Kiel Kommunikationsdesign sowie Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, wo sie heute als freie Illustratorin und Comicautorin arbeitet. Ihre Arbeiten wurden am Internationalen Comix-Festival Fumetto in Luzern, am Comicfestival Hamburg sowie am Comic-Salon Erlangen ausgestellt. „Die Lichtung“ ist ihre erste Graphic Novel, erschienen 2018 in Deutschland bei Reprodukt und 2020 in Italien bei Diabolo Edizioni.

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