Neun Jahre sind seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe von „L’amica geniale“ in Italien vergangen. Inzwischen wurde der von Edizioni e/o verlegte Romanzyklus über zehn Millionen Mal verkauft, in fünfzig Sprachen übersetzt und für das Fernsehen adaptiert. Wie aber wird Elena Ferrante vom deutschen Lesepublikum wahrgenommen? Giulia Mirandola hat in vier unabhängigen Buchhandlungen Berlins nachgefragt.
Von Giulia Mirandola
Ein wiederkehrendes Bild
Der kommerzielle Erfolg oder Misserfolg eines Buches wird in Verkaufszahlen gemessen, was aber die Gründe für das eine oder andere Schicksal sind, lässt sich an den Zahlen nur zum Teil ablesen. Meine Lieblingsbuchhandlungen sind jene, die nicht nur ein ausgewähltes Sortiment an Büchern führen, sondern zugleich „Observatorien“ sind, deren Buchhändler und Buchhändlerinnen bezeugen können, wie viele und welche Typen von Lesern und Leserinnen es gibt. Gleichzeitig hat mich ein wiederkehrendes Bild inspiriert: In den Buchhandlungen Berlins stößt man früher oder später immer auf die Bücher von Elena Ferrante. In Deutschland werden sie in der Übersetzung von Karin Krieger beim Traditionsverlag Suhrkamp verlegt, der als einer der renommiertesten Europas gilt. Wie aber wird die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante vom deutschen Lesepublikum wahrgenommen?
Die Berliner Buchhandlungen über Elena Ferrante
In den vergangenen Wochen habe ich in einigen unabhängigen Buchhandlungen ein Experiment durchgeführt, genauer im Buchladen zur schwankenden Weltkugel, in der Dante Connection, im Georg-Büchner-Buchladen und in der Buchhandlung Montag. Der erste Buchladen befindet sich in der Kastanienallee und führt insbesondere Bücher aus den Bereichen Politik, Philosophie und Psychoanalyse sowie allgemein „hochwertige Literatur“ im Sortiment. Die zweite Buchhandlung hat ihren Sitz seit jeher in Kreuzberg und zeichnet sich durch ihr besonderes Augenmerk für italienische Literatur aus. Die dritte liegt nur wenige Schritte vom Kollwitzplatz entfernt und bietet neben Büchern auch ein ansprechendes Veranstaltungsprogramm, ist praktisch Buchladen und Kulturzentrum in einem. Nummer vier ist eine kleine Buchhandlung mit einem klar definierten Konzept und Schwerpunkt auf Memoirs, feministischen Romanen und Sachbüchern sowie literarischen Stimmen aus Europa, Nordamerika, Südamerika und Afrika.
Die Fragen
In jedem der vier Buchläden habe ich sechs Fragen gestellt. Alle Buchhändlerinnen (ja, es waren ausschließlich Frauen) haben mir gern geantwortet. Die von ihnen formulierten Antworten spiegeln ihren individuellen Zugang wieder, ihre persönliche Perspektive. Keine der Buchhändlerinnen hat unser Gespräch dazu genutzt, Eigenwerbung zu betreiben, oder wollte es mit ihrer Antwort irgendjemandem recht machen. Ihre Aussagen helfen, den Beruf der Buchhändlerin und die Bedeutung der Buchhandlungen für den Kulturbetrieb besser zu verstehen.
Welche Bedeutung haben Elena Ferrantes Bücher in Ihrem Sortiment?
Viele Bestseller lassen das Publikum unserer Buchhandlung eher kalt. Aber die Bücher von Ferrante verkaufen auch wir sehr gut.
Ihre Bücher werden im Bereich der italienischen Literatur sowohl auf Italienisch als auch auf Deutsch häufig gefragt, hierbei vor allem die Bände der Amica geniale. Allerdings wählen unsere Kunden ihre Bücher auch gerne nach Reiseziel aus. Gefragt sind daher ebenso italienische Autoren aus der Toskana, Rom, Sizilien oder dem Norden.
Tatsächlich nimmt Elena Ferrante nicht so einen großen Raum in unserer Buchhandlung ein wie vielleicht anderswo. Es liegt auch mit daran, dass ich mich sehr schwer mit dem 1. Band getan habe und die weiteren dann gar nicht mehr gelesen habe.
In unserer Buchhandlung haben wir die Belletristik nach den Herkunftsländern der Autor*innen sortiert. Wir haben eine kleine feine Italien-Ecke. Da sind Elena Ferrantes Bücher seit einigen Jahren nicht mehr wegzudenken. Wir haben eine gut informierte, gebildete Kundschaft. Große Bestseller, die man z.B. bei Thalia findet, spielen bei uns eher eine keine Rolle. Elena Ferrante ist aber auch bei uns sehr gefragt.
Welche*r italienische*r Schriftsteller*in hat in ihrer Buchhandlung genau so einen Erfolg?
Primo Levi und Nanni Balestrini sind die beiden wichtigsten italienischen Autoren für uns. Mein persönlicher Geheimtipp der italienischen Literatur ist Emiliu Lussus Bericht über den Marsch auf Rom und Umgebung. Ganz aktuell geht auch das Büchlein von Michela Murgia Faschist werden ganz gut.
In den letzten Jahren sind die Bücher von Francesca Melandri und Paolo Cognetti ziemlich oft gefragt worden. Dazu sind zahlreiche moderne Klassiker immer noch sehr erfolgreich, zum Beispiel die Romane von Natalia Ginzburg.
Deutlich erfolgreicher sind bei uns die Bücher von Margaret Mazzantini bzw. Dacia Maraini, einfach weil sie mir besser gefallen und ich sie deswegen auch besser verkaufen kann.
Francesca Melandri. Gerade ihr zuletzt auf Deutsch erschienenes Buch Alle, außer mir war ein großer Erfolg.
Was suchen die Leser*innen in Elena Ferrantes Romanen?
Eine gute Frage, die schwer zu beantworten ist. Ich vermute, dass die Erfahrungen und Perspektive ihrer feministischen Generation, die Ferrante unter anderem in ihrem Werk verarbeitet, eine Rolle spielt. Darüber will man etwas lesen! Beim Lesen von Literatur sucht man wahrscheinlich immer etwas Eigenes und etwas Fremdes. Das Vertraute soll fremd werden, das Unbekannte vertraut.
Die neapolitanische Saga fasziniert durch ihren langen Erzählbogen.
Das könnte der Wunsch sein, ganz in eine Geschichte einzutauchen. Sich komplett auf die Figuren und eine andere Zeit, ein anderes Land einzulassen. Elena Ferrantes Bücher entwickeln einen Sog und lassen einen, einmal abgetaucht, nicht mehr los. Schmöker, die alles andere als platt sind.
Was für eine Art Publikum ist Elena Ferrantes Publikum in Berlin?
Die Tetralogie war ja in Deutschland ein richtiger Bestseller, und insofern interessieren sich alle möglichen Leute dafür. Nicht nur Feministinnen, nicht nur Frauen, nicht nur Neapel-Fans.
Breit gefächert, sowohl an Italien Interessierte als auch Personen, die gerne Familiensagas und Frauenbiografien lesen.
Wir haben die Reihe vielleicht an ungefähr 10 Kunden verkauft und das waren überwiegend Frauen mittleren Alters.
Bei uns wird sie von ganz unterschiedlichen Leser*innen gekauft. Ich würde sagen, am allermeisten von Frauen über 30 und Männern über 50.
Was mögen die Leser*innen an Elena Ferrantes Büchern und was mögen sie nicht?
Ferrante schreibt spannend und sie hat etwas zu sagen, das mögen die Leser*innen. Es sind nicht nur die „weiblichen“ Themen, sondern auch die Darstellung der Klassengesellschaft, die beim deutschen Publikum auf enormes Interesse stoßen. Was mögen die Leute nicht? Einer unserer Kunden fand Ferrantes Stil zu banal. Eine andere Kundin fand es zu anstrengend, von den nervenaufreibenden Beziehungen zwischen neurotischen Frauen zu lesen. Das sei ihr zu nah am echten Leben. Was den einen gefällt, mögen andere gerade nicht.
Einfühlsame Figurenzeichnung, lebendige Charaktere, die typisch neapolitanische Atmosphäre. Manchen Lesern ist sie aber auch zu ausschweifend und gefühlsbetont.
Ich denke, dass sie die Tiefe der Figuren sehr schätzen. Die Charaktere sind vielschichtig und die Beziehungen komplex und glaubwürdig. Die Sprache bzw. die Übersetzung finden viele wunderbar zu lesen, mich eingeschlossen. Nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht.
Sind Elena Ferrantes Romane „weiblich“, ziehen sie eher eine weibliche Leserschaft an und warum?
Bücher haben kein Geschlecht. Aber bestimmte Erfahrungen sind weiblich. Nach wie vor gibt es Leute (überwiegend, aber nicht ausschließlich Männer), die weibliche Erfahrungen für unbedeutend halten. Aber gleichzeitig sind viele Leute – Frauen, Männer und alle Anderen – begierig darauf, die Welt endlich auch aus weiblicher Perspektive zu reflektieren. Virginia Woolf hat festgestellt, dass in der Literaturgeschichte weibliche Figuren beinahe ausschließlich in Bezug auf männliche Charaktere vorkommen, wenn sie überhaupt mehr sind als die Verkörperung einer meist ziemlich geistlosen Männerphantasie. Woolf hat darauf gehofft, dass in den Romanen, die Frauen in der Zukunft schreiben werden, endlich mehr über zwischenweibliche Beziehungen Frauen zu lesen ist. Weibliche Erfahrungen, seien sie existenzieller oder ganz alltäglicher Natur, sind nach wie vor kaum artikuliert in unserer Kultur. Es gibt bis heute großen Nachholbedarf. Wenn Ferrante von einer Frauenfreundschaft erzählt oder von den komplexen, widersprüchlichen und tabuisierten Gefühlen, die mit Mutterschaft einhergehen, ist das enorm interessant und stillt einen Mangel.
Die Verlage setzen in ihrer Gestaltung offensichtlich auf ein weibliches Publikum. Überraschenderweise haben sich nicht wenige männliche Leser davon aber nicht abschrecken lassen und sich der Saga angenommen.
Wir haben die Reihe tatsächlich überwiegend an Frauen verkauft.
Ich denke, dass die Gestaltung der Bücher im Suhrkamp Verlag, die Titel und die Tatsache, dass es Erzählungen aus weiblicher Perspektive sind manche Männer abschrecken können. Aber die deutschen Medien haben sich von Beginn für sie eingesetzt und dagegen gearbeitet. Die guten Rezensionen haben den Verkauf sehr unterstützt. Ich empfehle Ferrantes Bücher Männern und Frauen, da ich finde, dass die Romane keine „Frauen-Romane“ (was auch immer das heißen mag) sind. Das klappt manchmal, aber manchmal auch nicht. Gerade wenn Kund*innen einem Mann ein Buch schenken wollen, sind sie da teilweise zurückhaltend.