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Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder von Jörg Müller
Die Wiedergeburt eines Buches

<i>Dove c’era un prato</i> von Jörg Müller (Lazy Dog, 2021)
© Lazy Dog Press

Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder Die Veränderung der Landschaft von Jörg Müller kehrt unter dem Titel Dove c’era un prato (dt. „Wo einst eine Wiese war“) in die italienischen Buchhandlungen zurück: ein Buch des Sauerländer Verlags aus dem Jahr 1973, das in Italien zweimal, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, erschienen ist: zunächst im Jahr 1974, dank der Neugier von Rosellina Archinto, der Gründerin des Verlags Emme Edizioni; zum zweiten Mal in diesem Jahr im Programm des unabhängigen Verlags Lazy Dog.

Von Giulia Mirandola

Die Bildermappe: ein Format ohne Wände

Für die Welt der Kinderbücher ist Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder in den Siebzigerjahren etwas Ungewöhnliches und Neues. Es handelt es sich nämlich nicht um ein traditionelles Buch mit festem Einband und Fadenbindung, sondern um eine Bildermappe aus Karton, die lose Blätter mit einzelnen Illustrationen enthält. 1974 wird der Titel mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, eine Anerkennung, die den Namen Jörg Müller in der ganzen Welt bekannt macht und besonderes Vertrauen sowohl in die behandelten Themen als auch in die Erfahrung der Bildlektüre zum Ausdruck bringt. Denn Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder kommt ganz ohne Worte aus. Die deutsche Ausgabe existiert noch heute als Bildermappe. Dieses über Jahrzehnte beibehaltene Format ermöglicht den Leserinnen und Lesern einen besonderen Lektüreansatz. Die Geschichte wird durchblättert, zusammengefügt, wieder auseinandergenommen. Die voneinander unabhängigen Räume und Zeiten der Erzählung können einmal eine lineare, einmal eine nicht-lineare Form annehmen. Der Verzicht auf die Bindung führt in der Konsequenz zu einem einzigen, ausgebreiteten Bild. Dieses ähnelt in formaler Hinsicht derjenigen Art von Bild, die wir sehen, wenn wir ein Panorama betrachten, ein Bild, das weder aufgerollt noch gefaltet, gedreht, wieder geschlossen werden kann. Nicht einmal zerknittern können wir es. Vor allem ist ein Panorama immer offen, während ein Buch einen abgeschlossenen Raum darstellt, wir schlagen es auf, schließen es wieder. Es scheint, dass Jörg Müller in diesem Objekt mit den Möglichkeiten eines Formates experimentiert, das tendenziell keine begrenzenden Wände kennt, genau wie die konkreten Orte, von denen es erzählt: eine Wiese, ein Hügel, ein Tal, Felder, ein Dorf, ein Viertel, eine Stadt. Auch der ideale Ort für die Lektüre scheint dieser Geografie anzugehören. Wenn die Landschaft im Buch steckt, sollte das Buch in der Landschaft gelesen werden
<i>Dove c’era un prato</i> di Jörg Müller (Lazy Dog, 2021) © Lazy Dog Press

Lazy Dog: die Bilder im Vordergrund

Das bei Lazy Dog erschienene Buch trägt dasselbe Coverbild wie die Sauerländer-Ausgabe, während es mit der Ausgabe von Emme Edizioni den Titel Dove c’era un prato und die Bindung gemeinsam hat. Für gewöhnlich verbinden wir Jörg Müller und Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder mit dem Kinderbuch-Sektor. Dies rührt daher, dass Verlage mit dem Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendliteratur bislang das größte Interesse an diesem Autor und seinem Werk gezeigt haben. Lazy Dog hingegen richtet sich an unterschiedliche Zielgruppen, an Erwachsene, Kinder, Jugendliche. Manchmal ist es hilfreich, den Katalog eines Verlags durchzusehen, wenn man sich ein konkretes Bild davon machen möchte, wie eine Neuerscheinung einzuordnen ist. Das Haus, zu dem Dove c’era un prato nun gehört, ist ein international geprägtes Umfeld, in dem Bücher über Design, Kalligrafie, Typografie, Illustration, Grafik und Fotografie entstehen. Die Verlagsgründer glauben an Bücher, an ihre Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Schönheit. Daher stehen Bilder und illustrierte Bücher in diesem Programm im Vordergrund
<i>Dove c’era un prato</i> di Jörg Müller (Lazy Dog, 2021) © Lazy Dog Press

Uns bewusstwerden, dass wir hier sind

In thematischer Hinsicht geht die Geschichte, die in Dove c‘era un prato erzählt wird, auch unsere Zeit etwas an. Denn die Veränderung der Landschaft ist etwas, das uns auf globaler Ebene betrifft und immer wieder mit den Veränderungen der Gesellschaft und der kollektiven Geschichten verflochten ist, mit unserer Art zu sein, zu handeln, zu kommunizieren und uns Dinge vorzustellen. Was erscheint uns verändert an den Landschaften, die uns umgeben, wenn wir sie mit Jörg Müllers Landschaften vergleichen? Dove c’era un prato beweist, dass die Bilder eines Buches eine nachhaltige Verbindung mit den Bildern außerhalb des Buches eingehen können. Dies soll nicht heißen, dass die Bilder in den Büchern mit denen außerhalb der Bücher identisch wären (oder sich darum bemühen sollten). Die Kontinuität liegt im Blick, der kommt und geht, geht und kommt, von der gezeichneten Wiese hin zur durchwanderten Wiese, vom entstellten Horizont der Fiktion hin zu jenem, der tatsächlich verwüstet ist, oder auch vom Feld, das bis zum Vortag noch bestellt wurde, hin zum Asphalt, der seit heute den Boden bedeckt, und so weiter. In Jörg Müllers Illustrationen wimmelt es von Punkten, anhand derer uns bewusstwerden kann, dass wir hier sind, genau dort, wo wir uns befinden. Und wo befinden wir uns? Dove c’era un prato ist Geografie, Geschichte, Malerei, Ökologie, Landwirtschaft, Anthropologie, Philosophie, Naturwissenschaft, Politik, Literatur, Leidenschaft, Liebe, Tod, Leben, Dichtung, ein Roman. So gut wie all die Fiktion, die wir benötigen, liegt hier, wo einst eine Wiese war.

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