Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Kernenergie: Pros und Contras
Klimaretter oder gefährlicher Umweltverschmutzer?

Atomkraftwerk
Atomkraftwerk | © Colourbox

Es waren unter anderem energiepolitische Überlegungen, die 1951 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl führten, der Vorläuferin der heutigen EU. Heute sucht die Union mit großer Mühe nach einem Konsens in Hinblick auf ein energie- und umweltpolitisches Thema, das die Emotionen hochkochen lässt: Die Kernenergie. 

Von Christine Pawlata

Während Deutschland dieses Jahr seine letzten drei aktiven Atomkraftwerke vom Netz nimmt, planen Länder wie Frankreich, Finnland und die Niederlande den Bau neuer Kernzentralen und will die EU-Kommission die emissionsarme Kernenergie in die sogenannte Taxonomie für nachhaltige  Wirtschaftstätigkeiten aufnehmen.

Die jüngsten Ereignisse rund um den Krieg in der Ukraine machen Fragen einerseits zur Abhängigkeit Europas von fossilen Brandstoffen und andererseits zur Sicherheit von Kernkraftwerken noch brisanter.

Das Goethe-Institut Italien hat mit zwei Vertreterinnen beider Seiten der Debatte gesprochen.

Anna-Veronika Wendland: „Man muss den Atomausstieg überdenken“

Anna-Veronika Wendland Anna-Veronika Wendland | Foto: © Severin Osadchuk Anna-Veronika Wendland hat sich nicht immer schon für den Einsatz von Atomkraft eingesetzt. „Als Studentin nach Tschernobyl war ich eine sehr aktive Anti-Kernkraft-Aktivistin,“ erzählt Wendland, die Technikhistorikerin am Herder-Institut in Marburg ist. Für ihre Habilitationsschrift über Mensch-Technik-Beziehungen in der Kerntechnik arbeitete Wendland die letzten neun Jahre als teilnehmende Beobachterin auf Atom-Arbeiter-Schichten in Kernzentralen in Deutschland und Osteuropa. Dabei untersuchte sie unter anderem, wie Sicherheit in der Kerntechnik hergestellt wird oder auch scheitern kann.

„Vorher stand ich wesentlich kritischer zur Kernenergie, weil ich schlicht nicht viel darüber wusste, wie etwa Reaktorsicherheit vor Ort gemacht wird,“ erzählt Wendland.

Gleichzeitig zu Wendlands Forschungsprojekt verschärfte sich die Klimakrise. Für die Forscherin wurde klar: Im Sinne des Klimaschutzes müsse man den für 2022 angelegten Atomausstieg Deutschlands überdenken.

Kohleausstieg vor Atomausstieg

Gemeinsam mit dem Nuklearwissenschaftler Rainer Moorman schrieb sie 2020 ein an den Bundestag gerichtetes Memorandum in dem sie dafür plädiert, Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen, bis die erneuerbaren Energieformen soweit ausgebaut sind, dass man den für 2038 geplanten Kohleausstieg vorverlegen kann.

Laut Wendland können manche Länder durchaus aufgrund ihrer klimatischen oder geologischen Beschaffenheit mit bestehenden Wasserkraftwerken und dem Ausbau von erneuerbaren Energieformen Klimaneutralität erreichen. „Es ist aber problematisch, wenn eine Volkswirtschaft wie unsere, der viertgrößte Industriestaat der Welt, sich Illusionen darüber macht, man könnte die Strombedarfe der Zukunft, die ums Mehrfache steigen werden, allein mit Wind und Sonne bestreiten. Dafür braucht man eine ungeheure Anstrengung in der Speichertechnik, und von der Rohstoffseite besehen ist das eine Materialschlacht, weil diese Anlagen extensiv sind. Da besteht die Gefahr, dass man sich in die Tasche lügt.“

Kritik von Atomgegnern, Kernenergie sei zu gefährlich, zu teuer, und brauche zu lange, um noch in Klimaschutz eingreifen zu können, sei in Deutschland fast schon Katechismus findet Wendland.

Eine Niedrigrisiko-Industrie – auch im Krieg?

„Kernenergie ist von ihrem rechnerischen Risiko und ihrer Unfallevidenz eigentlich eine Niedrigrisiko-Industrie, die aber als Hochrisiko-Industrie wahrgenommen wird, weil die wenigen Unfälle, die passieren, in ihrem ganzen Ausmaß sehr stark wahrgenommen und sehr stark gewichtet werden.“ Tatsächlich habe Kernenergie aber seit Beginn ihres Einsatzes 1959 deutlich weniger Opfer gefordert als fossile Energieformen, und stehe in der Statistik auf Höhe der erneuerbaren Energieformen, mit Ausnahme der Wasserkraft, die mehr Opfer gefordert habe als die Kernenergie.

Auch die Einnahme und der Beschuss des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja durch russische Truppen Anfang März 2022 ändert nichts an Wendlands Einschätzung von Atomenergie als Niedrigrisiko-Technologie. „Dasselbe, was für Kernenergie gilt, gilt für Staudämme, Chemieanlagen. Auch diese können wir nicht abschaffen, weil ein irrer Diktator alle Regeln bricht. Auch ihr Beschuss könnte zehntausende Opfer kosten oder eine Kontamination auslösen.“

Wendland fordert Deutschland zur Selbstreflexion über den Zusammenhang zwischen der deutschen Energiepolitik und den russischen Panzern vor dem AKW Saporischschja auf. „Unsere Energiewende baute bislang auf Gazprom-Backup. Unser Atomausstieg implizierte einen Gas-Einstieg. Unser Gas-Geld hat den russischen Panzer vor dem AKW mitfinanziert. Diesen Konnex sollten wir aufbrechen. Und dazu würde gehören: Totales Fossil-Embargo gegen Russland, Stopp des deutschen Atomausstiegs, denn jetzt wird jede Megawattstunde Strom gebraucht, die erstens nicht aus der Verbrennung russischer Rohstoffe stammt, zweitens gesicherte Leistung ist, und drittens CO2-arm ist. Alles drei kann die deutsche Kernenergie leisten.“

Jetzt eine Lösung für den Atommüll finden

Das Problem der Endlagerung des Atommülls müsse man jetzt angehen. „Wir dürfen es nicht auf zukünftige Generationen verschieben. Das wäre verantwortungslos.“

Es sei Forschungskonsens, so Wendland, dass das Risiko für nukleare Verseuchung extrem verringert sei wenn man Atommüll in einem tiefen geologischen Langzeitlager unterbringe, welches nach wissenschaftlich-technischem Höchststand errichtet wurde. Während das Endlager im finnischen Olikluoto kurz vor der Fertigstellung stehe und Schweden gerade mit dem Bau eines neuen Lagers beginne, ließe man sich in Deutschland mit der Identifizierung eines geeigneten Ortes für so ein Lager so viel Zeit, weil man den Endlagerbau in Gorleben verworfen und das gesamte Suchverfahren neu begonnen habe.

Das Argument, Atomenergie sei zu teuer, weist Wendland von der Hand. Wenn man in Detailplanung, investiere, hoch standardisiert in Serie baue und Managementfehler vermeide, sei Atomkraft auf längere Sicht nicht teurer als erneuerbare Energieformen, bei denen man Systemkosten wie Speicher oder andere Backups mit berücksichtigen müsse.

Wendland sagt, sie sei bereit ihre Meinung über die Notwendigkeit von Kernenergie zu ändern.
„Sobald mir jemand plausibel machen kann, dass man auch Industriegesellschaften nur mit Erneuerbaren und Speichern schneller dekarbonisiert bekommt als mit erneuerbaren Energien und Kernenergie, wäre ich geneigt zu sagen: auf diese Art und Weise kann man wirklich drauf verzichten, noch mehr Atommüll zu machen. Nur bisher konnte mich noch keiner davon überzeugen, dass das möglich ist.“

Sigrid Stagl: „Investitionen in Kernenergie verzögern die Energietransition“

Sigrid Stagl Sigrid Stagl | Foto: © privat Die Wirtschaftswissenschaftlerin Sigrid Stagl publizierte 2020 im Auftrag des österreichischen Umweltministeriums eine Literaturstudie zu einem der kontroversesten Themen, das die EU in letzter Zeit beschäftigt: Die Aufnahme von Kernkraft in die sogenannte EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten.

Bei der Taxonomie handelt es sich um so etwas wie ein grünes Label der EU, das private Investitionen mobilisieren und in Wirtschaftsbereiche lenken soll, die notwendig sind, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen.

Sigrid Stagl forschte und lehrte an der Sussex Energy Group der University of Sussex und gründete das Institute for Ecological Economics in Wien. Seit 2020 leitet sie das Department für Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Für ihre Studie analysierte die Ökonomin die Frage, ob Atomenergie als nachhaltige Energieform eingestuft werden kann, sowohl aus ökonomischer als auch aus naturwissenschaftlicher, technischer und anderen sozialwissenschaftlichen Perspektiven.

„Was dafür spricht, ist natürlich, dass im Vergleich zu Kohle oder Erdgas Atomenergie weniger Klimagase generiert,“ erklärt Stagl.

Keinen bedeutenden Schaden anrichten

Laut den Vorlagen der EU-Taxonomie dürfe aber eine Wirtschaftstätigkeit, die in einer Umweltdimension einen signifikant positiven Beitrag leistet, keinen bedeutenden Schaden an irgendeiner anderen Umweltdimension anrichten. „Das kann bei Atomenergie nicht positiv beantwortet werden, weil es Auswirkungen auf Ökosysteme und potenziell auf die menschliche Gesundheit hat,“ so Stagl.

Dabei gehe es neben den langfristigen, potenziellen Problemen mit der Endlagerung von Nuklearabfällen auch um das Kühlwasser, welches in Ökosysteme entlassen wird, und somit die Temperatur und die Ökosysteme selbst verändere. Auch die Arbeitsbedingungen beim Abbau von Uran seien durchgehend fragwürdig, so Stagl.

Kernenergie entspreche auch nicht der Voraussetzung für eine Aufnahme in die EU-Taxonomie, im Vergleich zu anderen klimafreundlichen Energieerzeugungstechnologien erstklassig zu sein. „Die neuen Erneuerbaren, also Photovoltaik und Wind haben niedrigere Stromgestehungskosten. Das heißt, aus ökonomischer Sicht sind AKWs viel zu abhängig von der Unterstützung staatlicher Institutionen und Abnahmegarantien,“ so die Ökonomin.

Kein grünes Label für Kernkraft

Für Stagl ist klar: Atomenergie soll kein grünes Label bekommen. „Vor allem auch deswegen, weil es nicht mehr nötig ist, weil wir mit den Erneuerbaren Besseres haben.“ Laut Stagl würde Kernenergie mit einem grünem Label Rückenwind gegeben und ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöht, obwohl sie von der Technologie per se nicht mehr wettbewerbsfähig sei.

Kernenergie als Brückentechnologie in den Energie-Mix aufzunehmen, bis die Erneuerbaren auf dem Stand sind, fossile Energieformen zu ersetzen, findet Stagl keine gute Idee. „Jede Umstellung ist natürlich eine Veränderung, die aktuelle Praktiken in Frage stellt, die bestehende Infrastrukturen teilweise überkommen werden lässt. Das heißt, das ist teilweise mühsam, das erfordert neue Regelungen und neue Geschäftsmodelle.“

Neue Atomkraftwerke zu bauen sei nicht die Lösung, denn bis diese klimafreundlichen Strom liefern können, würde es zu lange dauern. „Es lenkt ab. Es lenkt Finanzmittel, es lenkt Aufmerksamkeit, es lenkt Forschungsgelder ab von der wirklich nachhaltigen Lösung. Und das ist meines Erachtens das größte Problem.“

Der Angriffskrieg auf die Ukraine zeige die Problemlagen noch einmal klar auf. „Die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl, macht die europäischen Politiker*innen erpressbar und Atomkraftwerke sind Sicherheitsrisiken, die nicht zu managen sind. Das zeigt auch nochmal klar, weshalb diese Energiequellen nicht nachhaltig sind und nicht grün eingestuft werden sollen. Statt sich nun wieder auf Abwege und Umwege zu begeben, soll nun die Umstellung auf Erneuerbare beschleunigt werden. Nachhaltigkeit ist Ressourcensicherheit.“

Top