Interview mit Daniela Seel
Die Care-Arbeit, mit neuer Dringlichkeit

Daniela Seel Interview
© Axel Kahrs

​Den gescheiterten Neoliberalismus zu den Akten legen und die Fürsorge für die Schwächeren endlich wertschätzen, so wünscht sich die Berliner Dichterin die Welt nach Corona.

Von Maria Carmen Morese & Johanna Wand


Welchen Raum nimmt Ihre Arbeit in der Isolation ein?

Einen sehr geringen, leider. Mit einem 4 Monate und einem 2 Jahre alten Kind bin ich schon froh, jeden Tag 2 bis 3 Stunden Homeoffice für die allernötigsten Dinge aus Korrespondenz, Orga, Aufträgen und Projektanfragen zu schaffen. Virginia Woolfs "Ein eigenes Zimmer" hat durch diese Erfahrung noch einmal neue Bedeutung für mich gewonnen. Auch meine Hochachtung für berufstätige Mütter früherer Jahrhunderte ist sehr gestiegen. Zum Glück bleibt durch die täglichen Aufgaben und das Kindergewusel kaum Zeit, sich bloß allgemein zu sorgen. Das Gespenstische dieser Wochen bleibt konkret. Für Ruhe und einen freieren Kopf, die ich zum Schreiben brauche, sehe ich September 2021 als Horizont, wenn es hoffentlich Medikamente und Kitaplätze für beide Kinder geben wird. Jedes Gedicht, das schon früher entsteht, wird mir ein besonderes Geschenk sein. Schönerweise bin ich für ein paar virtuelle Projekte und Veranstaltungen angefragt, so dass ich aus meiner künstlerischen Arbeit nicht völlig herausfalle.

Wie alle schwierigen Momente eröffnet auch die gegenwärtige Krise neue Möglichkeiten. Was können wir aus dieser Situation lernen?

Wie wichtig der öffentliche Raum ist, Bäume, Begegnungen, Kulturlandschaften, Resilienz, und wie verletzlich. Wie viel Emanzipation und Freiheit von öffentlicher Kinderbetreuung abhängen. Wie unveräußerlich es ist, dass zentrale Versorgungsaufgaben in öffentlicher Hand und gut finanziert bleiben. Und wie viel mit einem Grundeinkommen gewonnen wäre. Ich mag, dass viele Menschen jetzt behutsamer miteinander umgehen. Kontakte haben eine neue Intensität bekommen. Davon möchte ich etwas mitnehmen. Aber welche tiefgreifenderen, negativen wie positiven, Folgen diese Krise für die künstlerische und die Lebenspraxis längerfristig haben wird, das werden wir erst über die nächsten Jahre erfahren und reflektieren können.

Die neuen Umstände erschüttern und beunruhigen uns, aber sie ermutigen uns auch zu visionärem Denken. Von welchem Danach träumen Sie?

Ich träume davon, dass die Politik ihre plötzliche Beherztheit mitnimmt in den ebenso dringend notwendigen Einsatz gegen die Klimakrise. Dass Care-Arbeit endlich wertgeschätzt und deutlich besser honoriert wird. Dass wir die gescheiterte neoliberale Wirtschaftsideologie mit ihrem verkürzten Blick endlich zu den Akten legen. Und von einem Miteinander, das weniger Wert auf Konsum und mehr auf Gespräche legt, das nachhaltiger und achtsamer handelt. Von einem Europa, das sich nicht gegeneinander und nicht vor "den Anderen" verschließt, sondern füreinander eintritt, wenn es darauf ankommt. Keine neuen Träume also, doch mit neuer Dringlichkeit.
 

Biographie

Daniela Seel lebt als Dichterin und Verlegerin von kookbooks mit ihrer Familie in Berlin. Daneben arbeitet sie u.a. als Moderatorin, lektoriert für andere Verlage, veranstaltet, juriert, unterrichtet und übersetzt, zuletzt etwa Robert Macfarlane (Die verlorenen Wörter, Matthes & Seitz Berlin 2018), Johannes Göransson und Lisa Robertson, und ist aktiv beim gemeinnützigen KOOK e.V., für den sie zuletzt 2018 das Literatur-Performance-Festival KOOK.MONO kuratierte. Daniela Seel veröffentlichte die Gedichtbände ich kann diese stelle nicht wiederfinden, kookbooks 2011, was weißt du schon von prärie, kookbooks 2015, und Auszug aus Eden, Verlag Peter Engstler 2019, sowie gemeinsam mit Frank Kaspar das Radiofeature was weißt du schon von prärie, SWR/DLF 2015 (WH im NDR 2017). Für ihre Arbeiten wurde Daniela Seel vielfach ausgezeichnet, mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg, dem Kunstpreis Literatur von Lotto Brandenburg, mit Arbeitsstipendien der Villa Aurora, Los Angeles, des Goethe-Instituts Kopenhagen (in Reykjavík), des Berliner Senats und der Stiftung Brandenburger Tor sowie mit dem Spitzenpreis beim 1. Deutschen Verlagspreis. Ihre Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

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