Geboren nach ’89
Bonn

Von Matteo Tacconi

Im alten Regierungsviertel

Quadratische und spartanische Gebäude, breite Alleen, der ruhig fließende Rhein und viel Grün: Wiesen, Bäume, Parks. Werfen wir einen Blick auf das ehemalige Regierungsviertel von Bonn im Süden der Stadt. Nichts Aufgeblasenes, alles ist aufs Wesentliche reduziert. Es ist schwer vorstellbar, dass dies das schlagende Herz des politischen Systems Westdeutschlands war.

Zur vereinbarten Zeit, um zehn Uhr morgens, treffen wir Daniel Friesen, geboren 1990, Diplom-Geschichtswissenschaftler und Gründer der Agentur Bonn City Tours, die historische und kulturelle Spaziergänge in der Stadt organisiert. Er ist unser Reiseleiter in diesem Viertel und erklärt uns sofort den Grund für die schlichte Architektur. „Auf der einen Seite drückt sie das Verhalten und die Transparenz der Macht aus, die Eckpfeiler der westdeutschen Politik. Andererseits spiegelt sie den besonderen, temporären Charakter der Hauptstadt Bonn wider. Man war der Meinung, dass Berlin früher oder später wieder Hauptstadt werden würde. Als logische Schlussfolgerung gab es hier nichts Aristokratisches.“
Daniel Friesen
Daniel Friesen | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
Bonn war von 1949 bis 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung, die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Das war keine Selbstverständlichkeit. Viele Politiker drängten sogar darauf, dass es Frankfurt werden sollte. Doch am Ende setzte sich das kleine und provinzielle Bonn durch: Die 300.000-Einwohner-Stadt ist Teil des dichten städtisch-industriellen Netzwerks von Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands. Zu seinen Gunsten spielten neben der Förderung von Konrad Adenauer, dem Vater der Bundesrepublik Deutschland, auch die Bedingungen des städtischen Gefüges (50 % der Gebäude waren auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch vorhanden). Adenauer hatte eine Verbindung zu Bonn, da er vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus Bürgermeister des nahe gelegenen Köln war. 

Wir kommen an dem ehemaligen Hauptsitz des Bundeskanzleramts vorbei, ein dreigeschossiger geometrischer Komplex in dunklem Braun. „Angeblich sagte Helmut Schmidt, als er das Gebäude zum ersten Mal betrat: ‚Das ist doch kein Regierungssitz, es sieht eher wie eine Bank aus!‘“, verrät uns Daniel Friesen. Ein Farbton, der zeigt, wie der – nahezu anonyme – architektonische Rahmen des Regierungsviertels ausfiel. Der Sitz war bis 1999 aktiv, als das politische System dauerhaft nach Berlin zog. Heute haben die Gebäude neue Nachbarn: einige große Firmen, das öffentliche Radio Deutsche Welle, einige UN-Organisationen. Das Viertel hat eine neue Daseinsberechtigung erhalten und ist nicht zu einem Betonfriedhof verkommen.
 
  • Bonn – Altes Bundeskanzleramt  

    Bonn – Altes Bundeskanzleramt | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

  • Bonn – Altes Regierungsviertel  

    Bonn – Altes Regierungsviertel | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

  • Bonn – Altes Regierungsviertel  

    Bonn – Altes Regierungsviertel | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

  • Bonn – Altes Regierungsviertel  

    Bonn – Altes Regierungsviertel | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

  • Bonn – Haus der Geschichte  

    Bonn – Haus der Geschichte | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

  • Bonn – Haus der Geschichte  

    Bonn – Haus der Geschichte | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

Mit Daniel, der aus Bonn stammt, können wir über seine Generation, seine Beziehung zur Vergangenheit, seine Wahrnehmung der Frage nach Ost/West sprechen. „Ich glaube, dass die Mentalität in Bonn von einer westlichen Sichtweise bestimmt wird. Man fühlt sich wie der Gewinner des Kalten Krieges und es gibt viele Stereotypen über die DDR, deren Geschichte als totales Scheitern abgetan wird. Diese Stereotypen gibt es auch über den heutigen Osten. Allerdings sind diese Tendenzen eher in der Generation unserer Eltern zu beobachten. In meiner weniger.“

Daniel hat Freunde aus dem Osten und manchmal sprechen sie über die DDR, aber ganz offen, ohne ideologische Zwänge. „Ein Freund erinnerte mich einmal daran, dass beide deutschen Staaten nach dem Krieg großen Bedarf an Arbeitskräften hatten. Seiner Meinung nach löste der Westen das Problem durch die Anwerbung von Gastarbeitern und der Osten dadurch, dass die Frauen emanzipiert wurden und man sie in den Fabriken arbeiten ließ. Eine interessante Interpretation, die mich zum Nachdenken brachte.“

Auf Entdeckungsreise der DDR

Daniel Friesen, und darin besteht eine Übereinstimmung zu seinen in Dresden befragten Altersgenossen, ist der Meinung, dass man die Geschichte der DDR dreißig Jahre nach dem Mauerfall nicht so engstirnig betrachten sollte. Und damit steht er hier in Bonn nicht alleine da. Das sagt zum Beispiel auch sein Mitbewohner Claas Luttgens, Jahrgang 1997, Philosophiestudent. „Die Geschichte der DDR hat einige interessante Aspekte. Das eine ist die Hinterfragung des patriarchalischen Modells der Familie. Dass Frauen einer Arbeit nachgingen, wurde gefördert, und es wurden Kindergärten eingerichtet. Früher als in Westdeutschland wurden Frauen als aktive Subjekte der Gesellschaft angesehen“, sagt Claas, mit dem wir uns im Hofgarten, der großen Wiese vor dem Hauptsitz der Universität, treffen. An sonnigen Tagen ist er von den Studierenden bevölkert: Die einen spielen Frisbee, die anderen entspannen sich beim Lesen eines Buches, wieder andere bereiten sich auf eine bevorstehende Prüfung vor. So war es auch in den Tagen, als Bonn noch Hauptstadt war, nur dass sich manchmal die Zweckbestimmung des Hofgartens änderte: Hier fanden die großen politischen Proteste statt.

Hören wir am selben Ort und zu demselben Thema, was der Jurastudent Felix Cassel, geboren 1996, zu sagen hat. Was er über dieses Land weiß, hat er von seiner Mutter gelernt, die dort geboren wurde und ihre Kindheit und Jugend verbrachte. „Papa und ich sagen immer, dass sie, die Ostdeutschen, keine Bananen hatten (in Deutschland scherzen sie oft darüber, dass es in der DDR an exotischen Früchten mangelte, Anm. d. R.). Aber sie erinnert sich daran, dass man alles in allem gut in der DDR leben konnte. Arbeit, Gehalt, Wohnung: Es gab Sicherheiten.“

Das bedeutet nicht, dass das kommunistische Deutschland ein großartiges Land war. Ganz im Gegenteil. „Es gab nur eine Partei, es gab keine politische Diskussion, noch Demokratie“, unterstreicht Felix. Es war ein Polizeistaat mit starker Überwachung, geprägt von politischer Unterdrückung und das sollte man nie vergessen“, so Claas.
Claas Luttgens – Felix Cassel
Claas Luttgens – Felix Cassel | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

Europa – eine Notwendigkeit

Wie schon in Dresden stellen wir auch in Bonn bei den nach 1989 Geborenen fest, dass sie in Europa etwas Wertvolles sehen, einen Horizont, den es zu erhalten gilt. „Ich bin im Europa der offenen Grenzen und der einheitlichen Währung aufgewachsen, aber Europa ist natürlich etwas anderes und mehr: Es unterstützt und stärkt die Demokratie, es ermöglicht uns das Zusammenleben“, so Sebastian Lessel, auch er Philosophiestudent, geboren 1991. Wir führen das Interview mit ihm in der Bibliothek der Fakultät.

Europa ist notwendig, aber unter den Jugendlichen, den „nativen Europäern“, gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen, was sie damit meinen und wie sie es sich vorstellen – und das ist auch gut so. Felix Cassel, der sich selbst als konservativ bezeichnet, hätte es gerne weniger bürokratisch und föderal. „Wir brauchen eine leichtere EU mit einem neuen Schwerpunkt auf die Mitgliedsstaaten“, meint er. Claas Luttgens kritisiert mit linker Lesart den zu stark an der Marktwirtschaft orientierten Aufbau und hofft, dass Europa in Zukunft „ein großer sozialer Ort wird, mit einem gemeinsamen Sozialsystem und einer starken Aufmerksamkeit für die Umwelt“.

Europa steht auch für eine doppelte Identität. Dies ist der Fall bei Peter Mehn, Marketingleiter von The 9th, einem Coworking-Space unweit des Geburtshauses von Ludwig van Beethoven, Bonns berühmtestem Sohn. Peter wurde in Ungarn geboren und kam mit seinen Eltern nach Bonn. Seit Kurzem hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. „Ich habe mich eigentlich immer ein bisschen deutsch gefühlt, weil ich schon als Kind hierher gekommen bin. Aber manchmal übernimmt mein anderes europäisches Ich, das ungarische, temperamentvollere, das Ruder. Das gilt vor allem für die sozialen Beziehungen! Ich denke, dass Europa ein ausgezeichnetes Mittel für den Austausch von Kulturen in Europa ist.“ Hannah Stegmaier, Schülerin am Tannenbusch Gymnasium, Jahrgang 2001, stimmt ihm zu. „Europa bietet die Möglichkeit, in Frieden zusammenzuleben. Und für Deutschland ist es sehr wichtig, denn so wurde es ermöglicht, eine starke Beziehung zu Frankreich aufzubauen, mit dem wir seit Jahrhunderten militärische Konflikte ausgetragen haben.“
Sebastian Lessel – Peter Mehn – Hannah Stegmaier
Sebastian Lessel – Peter Mehn – Hannah Stegmaier | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia

Das große Museum

Wir schließen mit einem Besuch des enormen Museums Haus der Geschichte ab, das sich der deutschen Geschichte von 1945 bis heute widmet. Es befindet sich im ehemaligen Regierungsviertel und ist sehr gut erhalten. Der Eintritt ist frei. Jerome Jablonski, Jahrgang 2000, Gymnasiast aus Essen, kam zu Besuch, weil sie gerade die DDR durchnehmen. „Das Museum ist toll. Die interessantesten Säle sind die über die Mauer. Ich habe mich in die Leute aus Ostberlin versetzt, die in der eigenen Stadt gefangen waren.“

Matthias Buchholz, 1994 geboren, ist im Museum zu Hause: Er macht dort Führungen. Es ist nicht selten, dass er durch diese Säle Personen eines bestimmten Alters führt, die die Teilung Deutschlands selbst erlebt haben. „Zuerst schauen sie mich an und ich glaube, dass sie bei sich dachten: ‚Wer ist denn dieser junge Mann? Wie will er uns etwas über unsere Geschichte erzählen‘? Doch am Ende des Besuchs revidieren sie ihre Meinung und sagen: ‚Wow, das es war sehr interessant, seiner Sichtweise zuzuhören‘. Und meine Sichtweise ist, dass ich die Gefühle der Deutschen während des Kalten Krieges durch das solide Wissen der Geschichte vermitteln muss. Denn alles, was Geschichte ist, kann etwas Lebendiges sein. Die Geschichte ist nie allzu weit weg.“ Auch nicht für die, die nach 1989 geboren wurden.
Jerome Jablonski - Matthias Buchholz
Jerome Jablonski - Matthias Buchholz | © Goethe-Institut Italien / Foto: Ignacio María Coccia
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