Interview mit Azzurra Rinaldi
Raus aus der Krise mit Gleichberechtigung
Im Auftrag der Europarlamentarierin Alexandra Geese analysierten die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Azzurra Rinaldi und Elisabeth Klatzer die Pläne der Europäischen Kommission für den Einsatz der Mittel des Wiederaufbauprogramms „Next Generation EU“ in Hinblick auf Gleichstellungsmaßnahmen. Die Resultate sind ernüchternd.
Von Christine Pawlata
Das Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“, das der gebeutelten europäischen Wirtschaft aus der Coronakrise helfen und sie nachhaltig für die Zukunft rüsten soll, ist in vieler Hinsicht revolutionär: Es ist nicht nur das größte Konjunkturpaket der EU-Geschichte, zur Finanzierung des € 750 Milliarden schweren Fördertopfs nimmt die Union in einer nie zuvor gesehenen Geste der Solidarität auch zum ersten Mal gemeinsam Schulden auf.
Im Auftrag der Europarlamentarierin Alexandra Geese analysierten die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Azzurra Rinaldi und Elisabeth Klatzer die Pläne der Europäischen Kommission für den Einsatz der Mittel in Hinblick auf Gleichstellungsmaßnahmen. Die Resultate sind ernüchternd.
„Man hat die Frauen vollkommen vergessen,“ stellt Azzurra Rinaldi fest. „So eine Krise wie diese hat es noch nie gegeben. Die Branchen, die am meisten von dieser Krise getroffen wurden, sind jene mit einem hohen Beschäftigungsanteil von Frauen. Auf diese neue Situation reagiert die Europäische Kommission in ihrem Programm Next Generation EU aber mit alten Instrumenten. Tatsächlich fließt der Großteil der Fördermittel in die Bauwirtschaft, das Transportwesen und in Infrastrukturmaßnahmen, in jene Bereich also, in denen vor allem Männer beschäftigt sind. Das sind jedoch nicht die Branchen, die am härtesten von der Krise getroffen werden.“
Die Kosten der Benachteiligung
Gleichstellungspolitik ist nicht nur eine Frage der Frauenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Auf € 370 Milliarden schätzt die Europäische Kommission den Verlust, der durch die fehlende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt jährlich für die EU entsteht. Die Pandemie verschärft die bereits bestehende Ungleichheit, obwohl es überwiegend Frauen sind, die zum Beispiel im Einzelhandel, in der Pflege oder in medizinischen Berufen an der vordersten Front der Bekämpfung der Pandemie stehen, haben deutlich mehr Frauen als Männer wegen der Krise ihren Arbeitsplatz verloren. Und wegen des Ausfalls der Schulen und Kitas sind es immer noch vor allem Frauen, die ihre Arbeit aufgeben müssen um die Kinder zu betreuen.„Beispielsweise ist in Italien nach dem ersten Lockdown der Beschäftigungsanteil der Frauen von 50 auf 48% gesunken. Dazu kommt noch, dass in Italien circa 30% der Frauen nach der Geburt des ersten Kindes aufhören zu arbeiten, weil es nicht genügend Strukturen zur Unterstützung der Familien gibt,“ erklärt Rinaldi. „Wenn wir nicht dafür sorgen, dass 50% der Bevölkerung Einkommen generiert, dann haben wir auch 50% Bruttoinlandsprodukt weniger, die Staaten erhalten 50% weniger Steuereinkünfte. Dazu kommt noch eine enorme Vergeudung von Talent. In allen Ländern erwerben Frauen ihren Hochschulabschluss schneller und schneiden bei Examen besser ab. Der Staat investiert in Frauen, indem er ihnen ermöglicht zu studieren, aber er schafft dann nicht die Bedingungen, damit sie auch arbeiten können. Das ist so, als ob jemand in etwas investieren würde, ohne sich davon einen Ertrag zu erwarten.“
Wirtschaftsmotor Care-Ökonomie
Elisabeth Klatzer und Azzurra Rinaldi empfehlen unter anderem, neben einem Fokus auf Maßnahmen zur Förderung von ökologischer Nachhaltigkeit und Digitalisierung, die in den EU-Kommissionsplänen für die Wiederaufbauinitiative Next Generation EU festgeschrieben sind, das Augenmerk auf bezahlte Pflege- und Sorgearbeit zu setzten.„Wenn wir aus einer wirtschaftsanalytischen Perspektive vorschlagen, die Sorge-Ökonomie ins Zentrum zu stellen, bekommen wir meistens folgende Antwort: ‚Wir investieren in die Bauwirtschaft, weil es dort einen größeren Multiplikatoreffekt in Bezug auf die Beschäftigung und den Wohlstand gibt,‘“ fasst Rinaldi zusammen.
In ihrer Analyse führen Elisabeth Klatzer und Azzurra Rinaldi eine Studie an, die das Gegenteil belegt: Investitionen in bezahlte Pflege- und Sorgearbeit generieren mindestens doppelt soviel Arbeitsplätze, und damit auch ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt, als Investitionen in Bauprojekte. Vor allem der Beschäftigungsanteil von Frauen, die ungleich hart von die Coronakrise getroffen wurden, würde mit dieser Art Investitionen enorm ansteigen, ohne dabei zum Nachteil der Beschäftigung von Männern zu führen.
„Es ist deshalb gerade jetzt, aus einer Perspektive der wirtschaftlichen Effizienz heraus, sehr wichtig auf Investitionen in den Pflege- und Sorgesektor zu bestehen,“ führt Rinaldi aus. „Jetzt ist der Moment in dem wir entscheiden müssen, wie wir all dieses Geld ausgeben sollen. Wenn wir es nicht auf eine effiziente Art und Weise tun, wird das zu einem schlechteren Resultat führen, als das, welches wir haben könnten. Diese Entwicklung müssen wir auf jeden Fall vermeiden.“