Europaküche Palermo
La Vucciria

Géraldine Schwarz

Es ist eine Verbindung aus Magie und Realität. Kisten mit Obst und Gemüse, ein Feuerwerk aus Farben, Marktstände mit Fischen, so frisch, dass sie lebendig wirken, ein riesiges Stück Fleisch, das am Haken hängt, Käse soweit das Auge reicht. Inmitten dieser Fülle erledigen Sizilianer ihre Einkäufe – vor allem sieht man eine Frau von hinten in einem wassergrünen Kleid, deren Rundungen das Gemälde dominieren. Alle Sinne werden angesprochen. Man möchte berühren, riechen, sich an Geschmack und Düften berauschen. Der Realismus des Gemäldes vermittelt die Illusion, man müsse einfach nur eine Tür öffnen, um selbst auf diesem legendären Markt in Palermo zu stehen, den der sizilianische Maler Renato Guttuso in einem Monumentalwerk verewigt hat: La Vucciria. Unter seinem Pinselstrich wird das Wunder der gesegneten Erde Siziliens, seine sinnliche Fauna und Flora, zu einem Kunstwerk erhoben. Sie sind das heilige Band, das den Menschen mit der Natur eint.

Wenn wir heute das Meisterwerk von Guttuso würdigen, dann, um auf ein bedrohtes Erbe aufmerksam zu machen. Das Leben, das die Natur den Menschen seit jeher schenkt, ist gefährdet durch eine industrielle Massenproduktion, die die Tiere quält, ihre Umwelt zerstört, die Vielfalt und den Fortbestand der Arten vernichtet. Sie richtet ganze Teile der lokalen Wirtschaft zugrunde und verschärft die weltweiten Abhängigkeiten.

Die Corona-Epidemie hat die Anfälligkeit eines solchen globalisierten Nahrungssystems zutage befördert. Doch paradoxerweise eröffnet uns die dramatische Krise, in der wir uns befinden, auch die Chance, diese Zeit zu nutzen, um unser Verhältnis zu Nahrung, zum Konsum, zur Umwelt umzudenken, bevor es zu spät ist.

Angefangen dabei, eine regionale, für alle zugängliche, hochwertige Produktion zu fördern. Dies hängt von uns ab, den Konsumenten, und von unserer Fähigkeit, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen gegen die Exzesse der Globalisierung und industrielles Junk Food. Aber vor allem hängt es von unser aller Solidarität in Europa ab.

Das Gemälde von Guttuso öffnet nicht nur ein Fenster auf Sizilien, sondern auch auf die europäische Lebensart. Es spiegelt den Humanismus und die Sinnlichkeit eines Kontinents wider, der eine unglaubliche Vielfalt bietet – seine Landschaften, sein Kulturerbe und natürlich seine Küche. Die Unterschiede zwischen Norden und Süden, Osten und Westen sind eklatant. Und doch muss man Europa nur verlassen, um zu erkennen, dass unsere Ähnlichkeiten stärker sind als unsere Unterschiede. Dass es ein festes, sichtbares und unsichtbares Bündnis gibt, das durch multiethnischen und multireligiösen Zivilisationen und Kulturen geprägt wurde, die ein atemberaubendes Erbe hinterlassen haben.

Sizilien bündelt wunderbar all das, was Europa seit Jahrtausenden ausmacht, eine Verbindung von phönizischen, römischen, arabischen, normannischen, spanischen und italienischen Kulturen. Gehört es zum Orient oder zur westlichen Welt? Die Architektur, das Temperament und die Küche Siziliens bleiben unentschlossen. Die Geschichte hat entschieden. Heute ist Sizilien vor allem ein Teil von Italien. Dem Land, das den Faschismus hervorgebracht hat, aber auch die Renaissance und den Humanismus, die Menschen weltweit dazu bewegt haben, ihre Urinstinkte zu überwinden, sich von den Fesseln des Obskurantismus zu befreien, um sich zur Schönheit, zur Freiheit des Denkens und zur schöpferischen Vernunft zu erheben. Italien ist das Archiv des Schönsten, was die Menschheit zu tun weiß, es ist die Schatzkammer Europas, die Quelle, aus der Europas humanistische Werte entspringen.

Sizilien wurde vielfach besetzt, aber niemand hat es geschafft, diese Insel zu unterwerfen, die nur so strotzt vor Leidenschaft und Anarchie. Auch Europa war in der Vergangenheit gleichbedeutend mit Unterwerfung, Kolonialisierung, Totalitarismus und Krieg. Doch viele Europäer haben letztlich »nie wieder!« sagen können. So wie Renato Guttuso, der Faschismus und Krieg mit Kunst und Waffen bekämpfte.

Heute bedeutet Europa nicht mehr Unterdrückung, es ist im Gegenteil, das, was uns eben davor schützt – angesichts von Weltanschauungen, die den Menschen nicht ins Zentrum stellen, sondern in den Dienst einer hasserfüllten politischen Ideologie oder einer rein von Wirtschaft und Algorithmen geprägten Logik. Und das Überleben unserer lokalen Kulturen und Identitäten wird von unserer Fähigkeit abhängen, uns von unseren Vorurteilen zu befreien und Verantwortung zu übernehmen um Europa gemeinsam zu stärken gegen diejenigen, die es von innen und außen bedrohen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich nicht mehr damit zu begnügen, etwas von Europa zu erwarten, sondern sich zu fragen, was Europa von uns, seinen Bürgern, erwartet.

Ohne ein starkes Europa wird es keine starken Regionen geben. Und ohne die Regionen wird es kein Europa geben, denn es ist die Vielfalt, die Europa ausmacht. Beide stehen nicht im Gegensatz, nicht in Konkurrenz zueinander – sie ergänzen sich und verteidigen dieselbe Menschlichkeit. Ihr Schicksal ist unabwendbar miteinander verbunden.

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