Düsseldorf: 2. Teil
Düsseldorf: Stadt der Künstler*innen

Der Kunstpalast
Der Kunstpalast | © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

Im zweiten Teil seiner Reportage über die Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens erkundet Roberto Sassi die Düsseldorfer Kunstszene, indem er einige der bedeutendsten Museen der Stadt besucht und lokale Künstler*innen in ihren Ateliers trifft.

Von Roberto Sassi

Museen und Ateliers

Am nächsten Morgen herrscht in der Altstadt die für Regentage typische Stille. Ein paar wenige Passant*innen überqueren eilig die Hunsrückenstraße, in der sich mein Hotel befindet. Einige steuern die nahe gelegene Straßenbahnhaltestelle an, andere gehen in ein Café frühstücken. Ein Stück weiter parkt ein Postbote sein Fahrrad und zieht mit einem Bündel Briefe unter dem Arm davon. Um zur Kunsthalle zu gelangen, muss ich knapp 200 Meter durch den Regen, der sich langsam in Schneegriesel verwandelt. Ich befinde mich vor einem quaderförmigen Gebäude in brutalistischem Stil, mit einer Fassade aus grauen, von der Witterung leicht schwarz verfärbten Platten. Das Gebäude aus den 60er Jahren hat nichts mit der alten Kunsthalle zu tun, die zwischen 1878 und 1881 erbaut und im Zuge der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Vom ursprünglichen Gebäude sind nur die vier Karyatiden erhalten, die damals den prächtigen Dreiecksgiebel stützten. Heute stehen sie in einer Nebenstraße in der Nähe der Kirche St. Andreas.

Die einzigen Besucher im Inneren des Museums sind ich und ein etwa 70-jähriger Herr, der sich jedoch nur kurz im Foyer umsieht und dann wieder hinausgeht. Ich spaziere allein durch die temporäre Ausstellung zu Sigmar Polke. Der Maler studierte während der goldenen Jahren von Beuys an der Akademie, als der junge Gerhard Richter gerade begann, sich als bildender Künstler einen Namen zu machen. Als ich ins Freie trete, regnet es noch stärker als zuvor, also flüchte ich mich sofort ins K20, das Museum für zeitgenössische Kunst auf der anderen Seite des Grabbeplatzes. Anders als in der Kunsthalle sind hier zahlreiche Besucher*innen unterwegs. Ein Museumsführer dirigiert eine Gruppe in die große, Georges Braques gewidmete Ausstellung, die ich neugierig erkunde, bevor ich mich zwischen den Werken von Klee, Picasso, Matisse, Kandinsky und vielen anderen großen Künstler*innen des vergangenen Jahrhunderts verliere. Unter ihnen findet sich auch der rastlose Sohn Düsseldorfs, Joseph Beuys. Sein kantiges, melancholisches Gesicht nimmt eine ganze Wand im ersten Stock ein – es handelt sich um eines der berühmtesten Fotos von Andy Warhol.

Zu Mittag erhalte ich eine Textnachricht von Felix Schramm, der mich einlädt, ihn in seinem Atelier zu besuchen. Und so nehme ich am späteren Nachmittag die Straßenbahn in Richtung Pempelfort, einen Stadtteil nördlich des Zentrums. Es ist bereits dunkel, die Bewohner*innen kommen von der Arbeit nach Hause und verschwinden in pastellfarbenen, vier bis fünf Stockwerke hohen Gebäuden. Das Atelier von Schramm hat wenig mit dem von Elger Esser gemein, es ähnelt mehr einer aufgeräumten Werkstadt: Gipskartonplatten auf dem Fußboden, Werkzeuge, maßstabsgetreue Modelle seiner „spatial intersections“. Nach ein paar technischen Fragen sprechen wir über die Akademie. „Die Kunstakademie ist ein Ort des intellektuellen Austauschs, das Herz des künstlerischen Düsseldorfs“, erklärt Schramm. „Viele Student*innen aus der ganzen Welt kommen hierher, um an der Akademie zu studieren, wodurch ein internationales Netzwerk von Kontakten entsteht, von dem die ganze Stadt profitiert.“ Er erzählt von seinen Erfahrungen als Student und ich höre ihm interessiert zu. Während er redet, denke ich, dass unser Gespräch immer wieder zu diesem Punkt zurückkehrt – zur Kunstakademie, dieser im fernen Jahr 1773 gegründeten Institution, die nach wie vor Künstler*innen von Weltruhm hervorbringt.

ZWÖLFTAUSEND KÜNSTLER*INNEN

Am dritten Tag habe ich am späten Vormittag einen Termin bei Michael Kortländer. Um zum Sitz des Vereins der Düsseldorfer Künstler zu gelangen, dessen Vorsitzender Kortländer seit 2014 ist, durchquere ich den Hofgarten. Der große Park bildet im Osten einen grünen Puffer zwischen der Altstadt und den übrigen Stadtteilen des Stadtbezirks 1. Wenig später laufe ich einen gewaltigen verglasten Gebäudekomplex entlang, hinter dem sich ein imposanter, ebenfalls verglaster Turm erhebt. Der 108 Meter hohe ERGO-Turm ist das dritthöchste Gebäude Düsseldorfs und verdankt seinen Namen dem bekannten Versicherungskonzern, der dort seine Verwaltungsbüros hat. Ich bin verwirrt: Wenn ich die Adresse, die mir Kortländer per E-Mail geschickt hat – Sittarder Straße 5 – in Google Maps eingebe, schickt mich die App zur Hausnummer 5, allerdings am ERGO-Platz. Ich versuche mich zu orientieren und wandere um den Turm herum, bis ich ein zierliches weißes Gebäude entdecke, eine Art architektonisches Relikt inmitten der ganzen Modernität. In diesem Moment wird mir klar, dass Sittarder Straße der alte Name der kleinen Straße war, bevor der Versicherungsriese hierherzog.
  • La stazione della metropolitana Heinrich-Heine-Allee © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    La stazione della metropolitana Heinrich-Heine-Allee

  • Die Kunsthalle © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Kunsthalle

  • Der Hof neben dem K20 © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Der Hof neben dem K20

  • Eine Detailaufnahme aus der von Claudia Schiffer kuratierten Ausstellung im Kunstpalast © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Eine Detailaufnahme aus der von Claudia Schiffer kuratierten Ausstellung im Kunstpalast

  • Eine Installation im Rahmen der von der Gruppe Palermo–Düsseldorf organisierten Ausstellung © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Eine Installation im Rahmen der von der Gruppe Palermo–Düsseldorf organisierten Ausstellung

  • Das K21 © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Das K21

  • Der ERGO-Turm © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Der ERGO-Turm

  • Einige Schilder japanischer Geschäfte in „Little Tokyo“ © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Einige Schilder japanischer Geschäfte in „Little Tokyo“

  • Ein Porzellanladen in „Little Tokyo“ © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Ein Porzellanladen in „Little Tokyo“

  • Immermannstraße, il cuore di “Little Tokyo” © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Immermannstraße, das Herz von „Little Tokyo“

„Der Verein der Düsseldorfer Künstler existiert seit 1844“, erläutert Kortländer in seinem Büro nicht ohne Stolz. „Sie haben versucht, unser Gebäude zu kaufen, aber wir sind immer noch da.“ Ich frage auch ihn nach der aktuellen Bedeutung von Beuys und seine Antwort deckt sich mit der von Esser: ein bedeutender Künstler zu Lebzeiten, heute von deutlich geringerer Relevanz. Wir sprechen über diesen Umstand, dann berichtet er mir von den Aktivitäten einer anderen Organisation, der er vorsteht, der Gruppe Düsseldorf-Palermo, die sich der Förderung des künstlerischen Austauschs zwischen den beiden Städten verschrieben hat. Der aus Münster stammende Bildhauer und Maler Kortländer studierte in den 70er Jahren an der Akademie und entschied sich im Anschluss hierzubleiben. „In Düsseldorf gibt es 12.000 Künstler*innen“, sagt er und nimmt einen Schluck Kaffee. Das sind sogar 7.000 mehr als Esser vor zwei Tagen gemeint hatte.

Später schlägt Kortländer vor, den nahe gelegenen Kunstpalast zu besuchen, wo wir zügig durch eine von Claudia Schiffer kuratierte Ausstellung zum Thema Modefotografie gehen. Danach steigen wir ins Auto und fahren in Richtung Flingern, einen Vorort im Osten, um uns eine Ausstellung palermitanischer Künstler*innen anzusehen, die Kortländer kuratiert hat und die vor Kurzem in einem aufgelassenen Autohaus eröffnet wurde. Als wir ankommen, legt er den Hauptschalter im Stromkasten um, erzählt mir, wie die Idee entstand, eine Ausstellung an so einem Ort zu realisieren, und setzt eine sonderbare Installation in Betrieb. Es handelt sich um eine Reihe unterschiedlich großer, an Ketten befestigten Messern, die über einem Häuflein Glasscherben rotieren, diese durchmischen und zerbrechen. Das Geräusch und die Bewegung wirken hypnotisierend. Ich betrachte das Werk einige Minuten lang, während auf der breiten, vierspurigen Straße vor dem Fenster unaufhörlich Autos vorbeifahren. Ein in zweiter Reihe parkender Kurier beobachtet uns verwundert von seinem Lieferwagen aus.

DAS GESPENST DER AKADEMIE

Am Nachmittag habe ich Zeit, zwei weitere Dinge zu erledigen. Das erste ist, „Little Tokyo“ zu erkunden – jenes Viertel, in dem die größte japanische Gemeinschaft Deutschlands lebt und arbeitet. In diesem Teil der Stadt zwischen der Königsallee und dem Hauptbahnhof wohnt ein Großteil der über 8.000 in Düsseldorf lebenden Japaner*innen. Nach einem Spaziergang durch die Immermannstraße, bei dem ich über die Vielzahl an japanischen Restaurants, Cafés, Buchhandlungen und Supermärkten staune, nehme ich ein Taxi zurück nach Flingern, wo ich Lorenzo Pompa in seinem Atelier besuche.

Es ist das dritte Mal innerhalb weniger Tage, dass ich das Studio eines Künstlers betrete, und doch habe ich wieder das Gefühl, in einen höchstpersönlichen Bereich einzudringen. Pompa empfängt mich in einem schwach beleuchteten Innenhof an der Tür und bittet mich in einen Raum, der einer gemütlichen Künstlerwerkstatt ähnelt und von einem Holzofen erhellt und erwärmt wird. Ich setze mich auf einen Hocker vor einem großen Tisch, auf dem unterschiedliche Werkzeuge liegen, an der Wand hängen zwei große Gemälde. „Ich möchte sie mir noch ein wenig ansehen, bevor ich sie hier rauslasse“, erklärt Pompa auf meine Frage, ob sie fertig seien. Bei einem Bier plaudern wir über Flingern und den Wandel des Stadtteils von einem Industrie- und Arbeiterbezirk, wie er es bis in die 90er war, zu dem Szeneviertel, das er heute ist. „Die Studierenden der Akademie und ganz allgemein die Düsseldorfer Künstler*innen haben bei diesem Prozess sicherlich eine wichtige Rolle gespielt“, meint Pompa und legt im Ofen Holz nach.

Am nächsten Morgen, ich sitze bereits im Zug nach Berlin, denke ich zurück an dieses und alle anderen Gespräche, die ich in den vergangenen Tagen geführt habe, und plötzlich wird mir bewusst, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die Akademie stand im Mittelpunkt meiner gesamten Reise und ich habe sie gar nicht besucht. Im ersten Moment bin ich vergrämt und habe das Gefühl, einen wichtigen Ort verpasst zu haben. Wie kann ich über Kunst in Düsseldorf, über Beuys, über die Künstler, die ich getroffen und die dort studiert haben, sprechen, ohne die Akademie gesehen zu haben? Das frage ich mich, während der Zug bereits zurück nach Berlin braust. Doch allmählich drängt sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund: Vielleicht ist die Akademie einer jener Orte, die imstande sind, auch in ihrer Abwesenheit, besser noch, gerade in ihrer Abwesenheit, von sich zu erzählen – durch die mehr oder weniger sichtbaren Spuren, die sie anderswo hinterlassen hat.

Michael Kortländer

Michael Kortländer © Foto: privat Michael Kortländer Foto: privat
Michael Kortländer wurde 1953 in Münster geboren und studierte an der Kunstakademie Düsseldorf bei Maler Gerhard Hoehme. Der Bildhauer und Maler ist seit 2014 Vorsitzender des Vereins der Düsseldorfer Künstler zur gegenseitigen Unterstützung und Hilfe. Im Jahr 2013 gründete er die Gruppe Düsseldorf-Palermo, die sich der Förderung des künstlerischen Austauschs zwischen den beiden Städten verschrieben hat. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf, Neuss und Palermo.

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