Lukas Jüliger - Unfollow
Unfollow: der Earth-Influencer

Unfollow von Lukas Jüliger (Ausschnitt)
© Edizioni di Atlantide

Mit Unfollow gelingt Lukas Jüliger eine Science-Fiction-Erzählung über unser Verhältnis zum Planeten und zu anderen Menschen. Durch Computerbildschirme und soziale Algorithmen gefiltert, können selbst die besten Absichten verzerrt und pervertiert werden. Eine Geschichte, die mit Klarheit und Beunruhigung über die heutige Welt spricht.

Unfollow ist die zweite Graphic Novel von Lukas Jüliger und die erste, die in Italien bei Edizioni di Atlantide erschienen ist.

Von Emilio Cirri

Die Rettung des Planeten Erde: Zwischen Influencern und Ökoterror

Wenn die Erde eine Wiedergeburt in einem Menschen erleben könnte, welchen Beruf würde sie wählen? Die Antwort, so Lukas Jüliger, lautet: Influencer. Dabei handelt es sich um einen Jungen, der buchstäblich aus der Erde geboren wird, ein lebendes Simulakrum von ihr, der jedes ihrer Geheimnisse kennt, der in einem Waisenhaus unter anderen Ausgestoßenen aufwächst und dann ein Instagram-Star wird, der "Earthboi" der sozialen Medien, der in der Lage ist, einen Kult um sich selbst zu schaffen, sich in einen anderen Youtuber mit einer riesigen Fangemeinde zu verlieben und der die Idee eines alternativen Weges zur Rettung der Welt zu den Klängen von supernahrhaften Pilzen und Algen lanciert, die in der Lage sind, die Produktionsmodelle der Menschheit zu verändern.
Wenn wir einen Begriff für Unfollow von Lukas Jüliger wählen müssten, welchen würden wir nehmen? Offensichtlich ein deutsches Wort, eines der bekanntesten: Zeitgeist. Denn es ist der Geist der Zeit, mit dem sich Jüliger, wie schon in seinem Vorgängerwerk Vakuum, auseinandersetzt. Ein Dialog, in dem der Künstler die Gesellschaft befragt, ihre freigelegten Nerven berührt und die wesentlichsten Fragen unserer heutigen Welt anspricht. In diesem Fall Klimawandel und Nachhaltigkeit auf der einen Seite, Vernetzung und Internetfreiheit auf der anderen Seite. Themen, die uns alle betreffen und die in der deutschen Gesellschaft besonders spürbar sind. Was sie eint, ist die erklärte Faszination des Autors für religiöse Kulte und deren charismatische Führer.

Jüliger verfolgt die Entwicklung von Earthboi vom schüchternen, zurückhaltenden Kind zum Superstar und zeigt die Parabel eines Influencers, der zu einer Art Messias wird und seine Gemeinschaft außerhalb der hiesigen Welt findet, die aber durchaus Einfluss auf sie hat. All das macht Unfollow jedoch nicht zu einem besonders originellen oder interessanten Comic, denn die Entwicklung der Geschichte fühlt sich an wie die eines naiven Märchens für unkritische und eingefleischte Umweltschützer. Auch die Einbeziehung von Yu scheint nur funktional, und eine Abweichung auf dem Weg des Retters 2.0. Auch die Erzählstruktur und die stilistische Wahl der Trennung von Bild und Text, angereichert mit einem externen Erzähler, der den Weg des Protagonisten schildert, ist zwar im ersten Teil suggestiv und besonders eindrucksvoll, scheint sich jedoch im Mittelteil zu verwickeln und zu verlangsamen.

Aber all dies ist gut vom Autor studiert, der uns im sechsten Kapitel zeigt, was die eigentliche Idee von Earthboi und seinem Kult ist, sowie das letztendliche Ziel seiner App: Der idyllische und allzu beruhigende Verlauf der Geschichte erfährt einen tragischen Riss, der den zentralen Punkt der ökologischen Frage gewaltsam in einer einfachen Frage auflöst, nämlich ob der Mensch sich mit der Welt um ihn herum versöhnen kann. Nach Jüligers eigener Aussage sind Earthboi und Yu ewig gegensätzliche Teile, die sich beide der Tragödie bewusst sind, mit der unsere Welt konfrontiert ist, aber uneins darüber sind, wie sie damit umgehen sollen, ob mit Wut und Impulsivität oder mit Rationalität und Ideen. Es ist eine unerbittliche Geschichte unserer Gesellschaft, chirurgisch seziert und analysiert, nicht mit dem Auge des Journalisten, sondern des Erzählers, der seine Gefühle und seine Sensibilität nutzt, um die Realität zu interpretieren. Auch die ständige Vernetzung, der wir unterworfen sind, wird unter die Lupe genommen und demontiert. Zurück bleiben all die Möglichkeiten, Frivolitäten und Fallstricke, die das Netz bieten kann, zwischen Youtuber*innen, die sich selbst als Botschaft in den Mittelpunkt stellen, und anderen, die versuchen, etwas zu verändern, während sich Ausgestoßene rächen, indem sie einem charismatischen Anführer folgen und seinen Willen ausführen, ohne Kompromisse einzugehen.

Eisige Gestalten, schleichende Unruhe

Unfollow von Lukas Jüliger
Courtesy ofAtlantide Unfollow © 2021 Lukas Jüliger e Reprodukt
Die Atmosphäre der schleichenden, ständigen Beunruhigung erzeugt Lukas Jüliger sowohl durch seinen Zeichenstil als auch durch seine Erzählweise. Die menschlichen Figuren wirken fremd und distanziert, mit leicht überdimensionierten Köpfen und langgezogenen Augen. Besonders Earthboi bewegt sich mit seinen schwebenden Gesten und seinem eisigen Körperbau wie eine übernatürliche Figur zwischen den Seiten der Erzählung. Und in der Tat ist der Begriff Bewegung unzutreffend. Die Seiten der Erzählung sind oft in drei, maximal vier Vignetten unterteilt, die durch riesige weiße Flächen voneinander getrennt sind, eine Art Instragram-Wand, auf der Fotos von Bildunterschriften und Kommentaren begleitet werden. Und jeder Schnappschuss ist sorgfältig ausgewählt, um ein Detail einzufangen, ein wichtiges Element für die Geschichte oder, im Gegenteil, etwas, das nicht an seinem Platz ist, eine destabilisierende Perspektive, eine Aufnahme, die aus der Achse gerät. Selbst wenn sich das Tempo etwas zu sehr verlangsamt und die Geschichte auf Grund zu laufen scheint, hat der Autor immer die Kontrolle über die Erzählung und nutzt jedes Element, das ihm zur Verfügung steht, um seine Geschichte voranzutreiben. In diesem Sinne nimmt sogar die Farbe eine fundamentale Rolle ein, mit abwechselnd warmem Rosa-Rot und kaltem Mitternachtsblau (die gleichen Farben des Covers), die jedes Mal eine andere Bedeutung annehmen, manchmal sogar kontra-intuitiv und daher noch suggestiver (siehe das ruhige Rosa, das das tragische und dramatische Ende begleitet).

Unfollow ist die Bestätigung des Talents von Lukas Jüliger, einem Erzähler, der die Gegenwart der Welt und seiner Generation zu deuten und zu erzählen weiß, der die Welt durch eine eisige und schwebende Perspektive filtert, scheinbar fremd und zutiefst menschlich.
 

Wer ist Lukas Jüliger?

Lukas Jüliger © © privata Lukas Jüliger © privata
Lukas Jüliger
 ist einer der interessantesten jungen Gegenwartsautoren des deutschen Comics. Geboren 1988, studierte er zunächst an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften und später an der ENSAD (École nationale supérieure des Arts Décoratifs) in Paris. 2013 erschien bei Reprodukt sein rätselhaftes Debüt Vakuum. Sein "verfremdender" und eisiger Stil überzeugte die deutsche Kritik. 2018 gehört er zu den von Isabel Kreitz engagierten Autoren für die Carlsen-Reihe Die Unheimlichen, für die er Edgar Allan Poes Erzählung Berenice adaptiert und in die heutige Zeit versetzt. Im Jahr 2020 veröffentlichte er, wiederum bei Reprodukt, Unfollow, das von Publikum und Kritikern sehr gelobt wurde und auch in Italien jetzt bei Edizioni di Atlantide in der Reihe Blu Atlantide erschien ist. Er lebt und arbeitet in Berlin als Cartoonist und Illustrator und kooperiert u.a. auch mit Le Monde Diplomatique und dem Goethe-Institut. Um eine Vorstellung von seinem besonderen Stil zu bekommen, werfen Sie einen Blick auf seine Website: www.lukasjueliger.com
Unfollow
Lukas Jüliger
Übersetzung von Martina Moretti
Blu Atlantide, 2021
168 S. – 17,50€
ISBN: 9791280028075
 

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