Dalibor Marković
Jüngere Geschichte

um Jugendliche
zu begeistern
für Geschichte
hab ich sie einfach
umgedichtet  
also nicht wundern
ich nehme Zeilen und Sätze
aus unserer Zeit und versetze
sie in vergangene Dekaden
des 20. Jahrhunderts
wer in den 30ern sagte:
„Mein Speicher ist voll.“
war entweder Mitläufer
oder hatte einer Familie schon Unterschlupf gewährt
wer in den 40ern sagte:
„Ich lade gerade.“
war entweder in einem Arbeitslager
oder lag in einem Busch mit nem Gewehr
wer in den 50ern sagte:
„Ich lösche die Datei.“
hatte sich versprochen
und meinte: Ich lösche die Partei aus meiner Vergangenheit
wer in den 60ern sagte:
„Ich hab ne Firewall.“
kam entweder aus dem Westen Berlins
oder aus dem Osten und war je nach Gesinnung gefangen oder frei
wer in den 70ern sagte:
„Ich brenne einen Rohling.“
war entweder Mitglied der GSG9
oder bei der Roten-Armee-Fraktion
wer in den 80ern sagte:
„Ich drücke auf senden.“
war jeweils Präsident einer Großmacht
und meinte Atomwaffen mit Pilzexplosion
wer in den 90ern sagte:
„Der Empfang ist schlecht.“
war Ossi und meinte Wessis  

Dichter: Massimiliano Mazzei 
Übersetzer: Verena Schmeiser, Anna Lisa La Marra


Dalibor Marković © Dalibor Marković Dalibor Marković Dalibor Marković
Frankfurt am Main, 15. Dezember 1975

Dalibor Marković
Dichter und Beatboxer, Spoken-Word-Lyriker. Die Wurzeln seiner künstlerischen Erfahrungen liegen in der Musik. Als Beatboxer macht er aus Lauten Rhythmen. Seit 2002 ist Marković mit seiner Spoken-Word-Lyrik auf deutschen und internationalen Bühnen unterwegs. Er gibt zudem Workshops zum Thema "Poesie verfassen und vortragen" an Schulen und Universitäten.

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