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Alles vergeht, außer der Vergangenheit
Zeitgenössische Kunst, koloniales Erbe und schwierige Fragen

Grace Ndiritu, A Quest For Meaning - AQFM VOL. 9
Grace Ndiritu, A Quest For Meaning - AQFM VOL. 9 (2019), Tatjana Pieters Gallery, Ghent, Belgium | © Courtesy of the artist

Eine Ausstellung und ein Online-Festival in der Turiner Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut schließen einen Veranstaltungszyklus zum Umgang mit kolonialen Artefakten in europäischen Museen und Archiven ab.

Von Christine Pawlata

Im Archiv der Turiner Consolata Missionare stießen die Künstlerinnen Rokia Bamba und Antje van Wichelen des Kollektivs Troubled Archives auf eine zweifelhafte Sammlung von kolonialen Fotografien. Es geht um Porträts von Menschen in den Missionsgebieten, die dem entmenschlichendem Blick der Kolonialherren ausgeliefert waren und in den zwanziger und dreißiger Jahren als Postkarten um die Welt gingen.

Zwei besonders gewalttätige Darstellungen verarbeiteten die Künstlerinnen in einer Klang- und Filminstallation, die vom 17. September bis zum 18. Oktober in der Ausstellung Alles vergeht, außer der Vergangenheit in der Turiner Fondazione Sandretto Re Rebaudengo zu sehen sein wird.
 
„Die Künstlerinnen stellten sich die Frage: 'Wie kann man diese malträtierten Körper einerseits in Erinnerung rufen, aber sie nicht erneut diesem Voyeurismus aussetzen, dem sie schon ausgesetzt waren?”, erzählt die Kunsthistorikerin Jana J. Haeckel.
 
Haeckel koordiniert das zweijährige Projekt des Goethe-Instituts Alles vergeht, außer der Vergangenheit, das mit der gleichnamigen Ausstellung und einem Online-Festival am 17. Oktober abgeschlossen werden soll. Dabei setzten sich Künstler, Wissenschaftler und Aktivisten im Zuge von Workshops und Performances in Barcelona, Bordeaux, Brüssel und Lissabon mit der schwierigen Frage auseinander, was mit dem kolonialen Erbe in den Museen, Archiven und dem öffentlichem Raum Europas geschehen soll.
 
“Das Leitmotiv der Ausstellung folgt dem der vorangegangenen Veranstaltungen, ausgehend von einer visuellen Perspektive”, erklärt Haeckel. „Alle Arbeiten, die wir in Turin sehen werden, arbeiten mit der Frage: The body in the archive, das koloniale Bild, wie geht man als Künstler damit um?”
 
Zu sehen sein werden Werke von Grace Ndiritu, Bianca Baldi, Alessandra Ferrini und dem Kollektiv Troubled Archives. Mit den Beiträgen der Künstlerin Alessandra Ferrini, die sich mit der italienischen kolonialen Vergangenheit in Libyen auseinandersetzt, sowie der auf den Postkarten der Consolata Missionare basierenden Installation von Troubled Archives, wurde auch ein Bezug zu Italien hergestellt.

Zeitgenössische Kunst als Instrument der Aufarbeitung

Die Wahl eines Museums für zeitgenössische Kunst als Ort für die Ausstellung war kein Zufall. „Die Museen, in denen die Workshops stattfanden, hatten alle mit dem Thema der Ethnographie zu tun, etwa das Afrikamuseum in Tervuren, oder das Musée d'Aquitaine in Bordeaux. Die Workshops fanden also mitten im Corpus Delicti statt. Wir arbeiteten am wahrscheinlich heikelsten Problem dieser Museen, nämlich an der Art und Weise wie diese ethnographischen Museen die Artefakte exponieren“, erklärt Irene Calderoni, Kuratorin der Ausstellung an der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo. „Mit der Unterbringung des letzten Teils des Projekts in einem Museum für zeitgenössische Kunst, wollte man aufzeigen, dass Kunst ein grundlegendes Instrument für die Reflexion über diese Themen sein kann.“

Zunehmende Sichtbarkeit

Seit Alles vergeht, außer der Vergangenheit Anfang 2019 startete, habe das Bewusstsein über die Debatte zugenommen, erzählt Haeckel. „Ich glaube, dass die Debatte nach der Ermordung von George Floyd und allen anderen schwarzen Afroamerikanern, die man noch dazu zählen muss, auch nach Europa eine andere Sichtbarkeit für die Probleme gebracht hat,“ so Haeckel. „Man kann wirklich sehen, dass das Thema immer mehr in der Gesellschaft angekommen ist. Auch dass es bei dem Thema Restitution und Objekte eben nicht nur um Objekte, sondern um Menschen und um den symbolischen Akt geht.“

Mangelnde öffentliche Debatte

Obwohl es in Italien nicht an kompetenten Wissenschaftlern und Künstlern fehle, die sich mit der Kolonialvergangenheit auseinandersetzen, finde das Thema in der öffentlichen Meinung Italiens keinen Widerhall, sagt Irene Calderoni. „Während in Frankreich in allen Zeitungen diskutiert wurde, als Macron verkündete, Kunstobjekte an die afrikanischen Museen zurückgeben zu wollen, sowie die Eröffnung des Humboldt Forums gerade in der öffentlichen Meinung Deutschlands sehr viel besprochen wurde, wird hierüber in Italien nicht diskutiert,“ so die Kuratorin. „Es fehlt das Bewusstsein darüber, was die Auswirkung dieser Debatte auf das Thema der Immigration und des Zusammenlebens mit Leuten aus anderen Ländern sein könnte.“
 
Calderoni hofft, dass die Ausstellung in Turin und das abschließende Online-Festival, mit der Teilnahme von internationalen Größen, wie der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr die von Macron beauftrage Studie zur Restitution von kolonialer Raubkunst in Frankreich erstellte, dazu beitragen, dass das Thema auch in Italien stärker diskutiert wird.

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