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Beitrag von Thomas Brussig
Bekennerschreiben - oder: Was ich dank Helmut Kohls Brille sehe

Berlin, Demonstration am 4. November 1989
© Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-437 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA 3.0

Autor Thomas Brussig beschäftigt sich in seinen Werken mit der Zeit vor und nach dem Fall der Mauer 1989. Für das Goethe-Institut Tokyo hat er einen exklusiven Text geschrieben, in dem er die Frage stellt: Wie verhalten sich die deutsche Wiedervereinigung und der Demokratie-Begriff zueinander?

Seit über zwanzig Jahren gibt es „Altachtundsechziger“, und weil ich seit wasweißich wie viel Jahren den „Ich-will-Teil-einer-Jugendbewegung-sein“-Komplex habe, werde ich mich hiermit als ersten Altneunundachtziger ausrufen. Wer einen solchen Schritt tut, der sollte zugleich etwas schreiben, was als „Standortbestimmung eines angehenden Altneunundachtzigers“ gelesen werden darf. Wohlan, Deutschland, lies, was dir dein erster Altneunundachtziger zu sagen hat!

Wenn es etwas gab, das mich neunundachtzig nicht interessiert hat, dann war es die deutsche Einheit. Für mich war schon „Deutschland“ ein Unwort; ich konnte es mir nur gebrüllt vorstellen, „Doitschland!“ Und was soll dieses Deutschland denn mit sich anstellen, wenn es denn wiedervereint ist? Natürlich wird es dort weitermachen, wo es zuletzt aufhören musste. Ich hatte nichts gegen Westdeutsche, überhaupt nicht, „meine besten Freunde sind welche“.  Aber die hatten merkwürdige Vorstellungen vom Leben. Einmal gab der Seitenständer meines Motorrades nach, so dass mein Motorrad gegen ein daneben stehendes Auto sackte und eine mit der Lupe erkennbare Delle verursachte. Das einzige, was ich danach tat: Ich versetzte mein Motorrad um einen halben Meter. Das Ganze hieß dann „Fahrerflucht“. Also bitte. Das mit der Wiedervereinigung, das war doch nur was für die Ü60.

Ich habe damals nicht über die deutsche Einheit nachgedacht – sondern über Demokratie. Ein großes Wort. Bedeutet „Herrschaft des Volkes“. Macht schon drei Wörter, davon immer noch zwei große. Aber wie wird sie ausgeübt, die „Herrschaft des Volkes“? Für die Westdeutschen war die Sache klar, Bundestag und so. Aber mich hat das nicht überzeugt. Haben wir den ganzen Aufwand getrieben, mit Demos, Verhaftungen (na ja, fast), verprügelt werden (ich nicht, aber nur, weil ich Glück hatte),  die „Nacht der Blutkonserven“, „auf Messers Schneide“ usw. – nur um dann aller vier Jahre irgendwo ein Kreuzchen zu machen, „die Stimmen in Urnen begraben“, wie Wolfgang Niedecken (Köln) sang? Nee, fand ich, Wahlen sind ja so was von 19. Jahrhundert. Eine demokratische Revolution im Jahre 1989 müsse die Demokratie in einen Jungbrunnen werfen.

Um den Westdeutschen zu erklären, wie lachhaft Wahlen doch sind, bin ich ihnen immer mit der Brille von Helmut Kohl gekommen. Helmut Kohl war ihnen ein Begriff, aber die Sache mit seiner Brille war ihnen unbekannt. Helmut Kohl war kurzsichtig und trug seit seiner Jugend eine Brille, doch mit einem gewissen Alter setzte die sogenannte Altersweitsichtigkeit ein, die seine Kurzsichtigkeit minderte und schließlich aufhob. Fortan brauchte er keine Brille mehr. Nach ein paar öffentlichen Auftritten ohne Brille sagten ihm seine Berater, dass er mit Brille „intellektueller“ wirke, und das war nicht herabsetzend gemeint, im Gegenteil: Mit Brille sei seine Beliebtheit deutlich höher als ohne. Demoskopen konnten diesen Effekt sogar messen, er machte etwa drei bis fünf Prozent aus, was zwei bis drei Millionen Stimmen entspreche. Fortan trug Helmut Kohl eine Brille mit Fensterglas. Was aber sind Wahlen wert, wenn eine nutzlose Brille des Spitzenkandidaten über mehrere Millionen Stimmen entscheidet?

Obwohl dieser rhetorische k.o. in seiner Schönheit mit Muhammad Alis Punch gegen George Foreman in der achten Runde beim „Rumble in the Jungle“ vergleichbar ist, wurde die Demokratie nicht in den Jungbrunnen geworfen. Stattdessen kriegten die Ü60 ihr Thema auf die Tagesordnung, und Helmut Kohl gewann zwei weitere Wahlen, mit Brille. Meine Widerstände gegen die deutsche Einheit hatte ich schnell aufgegeben, und ich war auch nicht so dumm, mich gegen sie zu wehren, als sie kam. ‚Nö’, sagte ich mir, wenn sie denn nun kommt, dann solltest du auch das Beste für dich draus machen.’ Inzwischen kann ich ganz lässig „Deutschland“ sagen, ohne gleich an Wehrmacht, Hakenkreuzfahnen und Leichenberge zu denken. (Die englische Presse sollte sich an meinem entspannten Umgang mit Deutschland mal ein Beispiel nehmen!)

Aber die Sache mit der Demokratie ist noch unerledigt. Was Wahlen angeht, habe ich mal eine Lanze fürs Nichtwählen gebrochen: Da ich noch in Erinnerung hatte, wie politisch determiniert der DDR-Alltag war, wie dominant der DDR-Staat auch in Alltagsdinge eingriff, wie er lenkte, vorschrieb und beschnitt, hatte ich eine Menge übrig für die Idee eines Staates, der keinen Einfluss auf meine unmittelbaren Lebensumstände hat. Wenn es aber auf meine Lebensumstände keinen Einfluss hat, ob diese oder jene an der Macht sind – warum sollte ich dann wählen? Ja, ist es nicht ein Ausdruck von Freiheit, bin ich dem Paradies nicht ein Schritt näher, wenn ich mir eine Gleichgültigkeit darüber leisten kann, ob nun diese oder jene regieren? Kann Nichtwählen nicht auch ein Indiz für „Abwesenheit von Not“ sein? – Gewiss, es ist wichtig, die Möglichkeit zu haben, eine Regierung abwählen oder verhindern zu können, und man sollte unbedingt wählen gehen, wenn es um etwas geht – aber eine niedrige Wahlbeteiligung könnte doch auch ein Zeichen von Zufriedenheit sein. Oder hab ich einen Denkfehler?

Wenn nach Umfragen immer die Rede davon ist, dass soundsoviel Prozent der Ostdeutschen ein Demokratiedefizit haben (oder demokratieskeptisch / demokratiemüde / demokratieverdrossen/ demokratiefeindlich sind), dann schlage ich mich gleich auf die Seite der Gescholtenen, denn neunzig Prozent der Westdeutschen sind zu oberflächlich, um zwischen „Demokratie“ und „Bundestag und so“ noch einen Spalt zu lassen, in dem man jungbrunnenmäßig nachdenkt, so als angehender Altneunundachtziger.

Im Jahr 2016 las ich ein Buch, das mich traf wie ein Donnerschlag. Der Autor war ein Belgier namens David van Reybrouck, und das Buch hieß „Gegen Wahlen“. Wahlen, schreibt van Reybrouck, seien ein Kind der Französischen Revolution, geboren aus dem Misstrauen der Revolutionäre gegen das Volk. Die „erbliche Aristokratie“ wurde durch eine „gewählte Aristokratie“ abgelöst. Wahlen seien mitnichten der Demokratie in die Wiege gelegt worden; in der Antike wurde nicht gewählt, sondern die gesetzgebende Versammlung wurde – ausgelost. Dadurch waren die Volksvertreter wahrhaft unabhängig. Sie mussten niemanden mit Versprechen ködern, schon gar nicht mit solchen, die sich vorhersehbar nicht einhalten ließen. Nie raubte der Wahlkampf ihre Kräfte, nie mussten sie aus Rücksicht auf ihre Wiederwahl vernünftige Entscheidungen aufschieben. Und niemand von ihnen trug eine Brille mit Fensterglas.

Einem Bekennerschreiben des ersten Altneunundachtzigers sollte auch die Klarstellung angefügt sein, dass neunundachtzig weder tolle Musik noch die sexuelle Befreiung hatte; der Punkt geht neidlos an die Altachtundsechziger. Dafür lieferte der Mauerfall einfach die geileren Fernsehbilder für die Nachwelt, und es hat am 9. November auch nicht geregnet, wie in diesem Woodstock.

Und für die „Fridays for Future“-Demonstranten hat der erste Altneunundachtziger auch einen Tipp. Weil ihm noch die Erleichterung in Erinnerung ist, eine richtige (wenn auch dünne) Stasiakte zu haben und ihm die Peinlichkeit erspart blieb, beim Akteneinsichtbeantragen leer auszugehen: Lasst euch ja die unentschuldigten Fehltage ins Zeugnis eintragen! Und wenn ihr es im letzten Schuljahr versäumt habt, lasst euch nachträglich die Fehltage bestätigen. Beschreitet notfalls den Rechtsweg – denn es kommt der Tag, an dem die Personalchefs unentschuldigte Fehltage als Hinweis für Engagement und Verantwortung zu lesen wissen.

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