Jean-Claude Carrière
„Für mich ist Europa kein friedlicher und geeinter Ort“

Jean-Claude Carrière im Gespräch
„Ich traf nie jemanden, der das Regime unterstützte – alle waren gegen das System“: Jean-Claude Carrière im Gespräch. | Collage (Detail): © privat/TEMPUS CORPORATE

Jean-Claude Carrière (* 1931) ist einer der führenden französischen Drehbuchautoren. Im Laufe seiner Karriere arbeitete er unter anderem mit Miloš Forman, Jean-Luc Godard, Volker Schlöndorff und Luis Buñuel. Das Interview führte Jeanne Pansard-Besson. Sie promovierte 2012 an der University of Cambridge und arbeitet seither als Opernregisseurin.

Pansard-Besson: Hatten Sie als Kind eine Vorstellung von Europa?

Carrière: Damals war Europa für mich ein Zentrum des Krieges. Es war absolut unmöglich, über die Deutschen zu sprechen, ohne sie als Feinde zu sehen. Für mich gab es Frankreich, aber kein Europa. Darüber haben wir nie gesprochen, wir konnten uns darunter nichts vorstellen. Aus der Schule wussten wir, dass es sich dabei um einen von mehreren Kontinenten handelt.

Während meiner Kindheit und Jugend gab es den europäischen Geist, wie man das nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete, noch nicht – jene mehr oder weniger willkürliche Vereinigung von Ländern, die sich eigentlich sehr voneinander unterscheiden. Ich war Franzose. Der Kontinent war im Krieg so heftig und blutig auseinandergebrochen, dass ich „Europa“ allenfalls als neuartige Idee, nicht aber als Tatsache empfand. Die Idee kam erstmals ab den 1950er-Jahren auf, als Politiker*innen darüber nachdachten, das zerrissene Europa zu vereinen. Es begann, wie Sie wissen, mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Doch dann begann der Kalte Krieg.

Für mich ist Europa also kein friedlicher und geeinter Ort. Ob die Einigkeit Europas gut oder schlecht war, sollen andere entscheiden. Denn wissen Sie, mitunter kann der „clash of cultures“ ja auch eine gute Sache sein. Auch im Prozess der Zerstörung können wir ja „den Anderen“ verstehen. Das haben wir insbesondere bei den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gesehen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war dort ein schrecklicher Hass wiedererwacht. Das Beispiel zeigt: Nur weil wir Europäer*innen sind, dürfen wir nicht davon ausgehen, dass wir unsere Nachbarländer auch mögen.

Wenn wir über Europa redeten, ging es stets um den Osten und den Westen

Jean-Claude Carrière

Wenn wir Europa heute auf einer Landkarte betrachten, sehen wir eine Reihe kleiner Feudalsysteme, von denen einige wichtiger sind als andere und die dazu neigen, sich immer mehr abzuschotten. Zu sagen, ich bin besser als mein Nachbar, deshalb blicke ich auf ihn herab, verweigere ihm Einlass, verweigere ihm Hilfe – das ist in
den letzten Jahren eine seltsame Art von Rückkehr in das Mittelalter, gefördert und ermutigt durch nationalistische und rechtsextreme Parteien.

Diese Tendenzen folgten der Ära des Kalten Krieges, in der ich den wichtigsten Teil meines Lebens verbrachte. Damals gab es nur die beiden Blöcke. Wenn wir über Europa redeten, ging es stets um den Osten und den Westen. Europa war geteilt. Bis 1989 die Berliner Mauer fiel und die Hoffnung keimte, dass Europa als solide, wirtschaftlich wohlhabende Einheit an Bedeutung gewinnen würde.

Pansard-Besson: Welche Hoffnungen verbanden Sie mit dem Ende des Kalten Krieges?

Carrière: Während des Kommunismus arbeitete ich in Russland, in Polen und in der Tschechoslowakei. Für uns „Künstler“ waren die Grenzen poröser, durchlässiger als für andere.

Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen: Ich arbeitete in den 1980er-Jahren unter anderem an einer Umsetzung von Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Noch während des Schreibens am Drehbuch wurde Michail Gorbatschow Präsident der Sowjetunion, sodass manches bereits leichter wurde. Trotzdem durften wir – wie erwartet – nicht in der Tschechoslowakei drehen. Der Roman war dort strengstens verboten, weshalb wir den Film schließlich in Frankreich drehten. Als wir fertig waren, war in Moskau alles anders. Ein Filmemacher, den ich recht gut kannte, [Elem] Klimow, war von Gorbatschow an die Spitze der Sowjetischen Kinos bestellt worden. Er organisierte ein Filmfestival und lud uns ein, eben diesen Film dort zu zeigen. Das war 1980!

Was für eine Ehre: ein Film, dessen Romanvorlage und Dreharbeiten in den Ländern des Ostblocks verboten waren, durfte nun im Rahmen eines Moskauer Filmfestivals gezeigt werden.

Als wir mit Philippe Kaufman, dem Regisseur, in Moskau ankamen, sagte Klimow uns dann, dass sie den Film nicht im offiziellen Filmtheater vorführen könnten, sondern an einem anderen Ort. Als Philippe nach dem Warum fragte, antwortete Klimow: „Wir fürchten, dass die tschechische Delegation den Raum verlässt.“ Mit anderen Worten: Klimow hatte die Sorge, dass die Vertreter jener Satellitenstaaten, die sich nun für die besseren Kommunisten hielten, die neue Führung in Moskau düpieren könnten. Das hat uns ziemlich beeindruckt.

Pansard-Besson: Haben Sie in den kommunistischen Ländern besondere Erfahrungen gemacht?

Carrière: Ja, denn ich habe meine Zeit dort stets mit Regimegegnern verbracht. Ich traf nie jemanden, der das Regime unterstützte. Ob in Polen, in der Tschechoslowakei oder in Russland selbst – alle waren gegen das System, auch wenn es nicht immer offen gesagt wurde. Man kann sich die Frage stellen, wie es
überhaupt so lange bestehen konnte.

Ich traf nie jemanden, der das Regime unterstützte – alle waren gegen das System.

Jean-Claude Carrière

Wenn man sich in einem Land befindet, das in jeder Hinsicht fremd ist – Sprache, Sitten und Gebräuche und so weiter –, gibt es trotzdem eine gemeinsame Sprache: die des Kinos. Was will jemand aussagen und zeigen, welche Geschichte gilt es zu erzählen? Es geht stets um dieses Fragen.

Als ich zusammen mit dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda an „Danton“ (1983) arbeitete, faszinierte mich sein Standpunkt. Ich hatte mich immer geweigert, einen Film über die Französische Revolution zusammen mit einem Franzosen zu drehen, weil wir die gleichen Bücher gelesen, die gleichen Reaktionen oder Aversionen gehabt hätten. Mit einem ausländischen Regisseur, insbesondere aus einem Land unter sowjetischer Herrschaft, war das ganz was anderes. Wajdas Standpunkt zu den Revolutionären beispielsweise war wirklich spannend. Es ging ihm nicht um irgendwelche Werturteile, sondern um die Frage ihres Tuns. Was hatten sie erreicht? Und was hatten sie riskiert? Am Ende haben sie schließlich alle mit ihrem Leben bezahlt.

Pansard-Besson: Wie war es für Sie, in Deutschland zu arbeiten? Es war nicht lange nach Kriegsende, oder?

Carrière: Ich habe zusammen mit Volker Schlöndorff „Die Fälschung“ und „Die Blechtrommel“ geschrieben. Volker und Günter Grass wollten einen nicht-deutschen Blick auf die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Dafür war ich der Richtige: zusammen darüber nachdenken, was mit uns passierte. Wenn Volker nach Paris kommt, wohnt er auf der anderen Seite des Hofes. Er hat da eine kleine Wohnung. Wir sind sehr gute Freunde.

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