Fermentation gestern und heute
Fermentationsprozesse sind allgegenwärtig: In jeder Ecke der Welt transformieren Mikroorganismen organische Substanzen – also auch unsere Lebensmittel. Aber wie und warum wurde dieser natürliche Prozess zur Kulturpraxis erhoben?
Von Peter Chan
Überall, wo Naturstoffe einem bestimmten Umfeld ausgesetzt sind, wird etwas durch Bakterien und Pilze zersetzt und durch Metabolisierung in etwas anderes verwandelt. Fermentationsprozesse als natürliches Phänomen sind in diesem Sinne tatsächlich viel älter als wir Menschen: Erst waren Mikroben da, dann kamen wir. Ohne diese hätte es uns ohnehin gar nicht geben können. Und überhaupt: Eigentlich sind auch wir Menschen zum Großteil mikroorganisch aufgebaut, denn über die Hälfte unserer Zellen – so wissen wir heute – sind von Mikroben besiedelt. Unser menschliches Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Körper und auf der Haut, bestimmt maßgeblich, wie wir denken, wie wir fühlen, wie wir uns entwickeln.
Das klingt jetzt erst mal ziemlich sperrig. Was genau soll das mit einem Food-Trend zu tun haben? Sprechen wir heute über das Fermentieren, so meinen wir menschliche Fermentationspraktiken: Es ist die kulinarische Nutzung einiger grundlegender biochemischer Prinzipien der Natur. Die gezielte gutartige Umwandlung von Lebensmitteln durch das Einleiten des Prozesses von uns Menschen. Ohne das Wort Fermentation gehabt zu haben, geschweige denn die höchst komplexen biochemischen Vorgänge und Interaktionen zwischen den Substanzen und Mikroorganismen verstanden zu haben, haben Menschen lange vor unserer Zeit schon Lebensmittel zu verschiedenen Zwecken fermentiert. Praktiken und Erzeugnisse der Fermentation finden wir in allen Kulturen: Seit jeher benutzen Menschen verschiedenste Techniken der Zugabe von Zutaten und dem Aussetzen bestimmter Umgebungen, um Gemüse und Obst, Getreide und Hülsenfrüchte – und ja, auch tierische Produkte wie Milch, Eier oder Fleisch – haltbar zu machen, ihre Bekömmlichkeit zu steigern, neue Geschmäcker zu kreieren und Substanzen zu erzeugen, die ihr Körperbefinden stimulieren und ihren Geist beeinflussen können.
Auch das Potential von zermatschten Trauben und anderen zuckerhaltigen Früchten hat man vor tausenden von Jahren angefangen durch Zufälle zu entdecken – und Winzer erschöpfen dieses bis heute unermüdlich, um das daraus resultierende Getränk in bauchigen Gläsern zu begutachten, zu schwenken, zu schnüffeln und zu schlürfen. Oder eben einfach: Um sich zu betrinken. Wein entsteht durch die transformativen Eigenschaften von Hefen, die sich nicht nur auf der Oberfläche von reifen Früchten finden, sondern uns permanent in der Luft umgeben und das Potential haben, Zucker in Alkohol (und Kohlensäure) umzuwandeln. Und Zucker haben diese Früchte bei entsprechendem Reifegrad ja genug, von daher ein leichtes Spiel.
Fermentiert wird in den verschiedensten Kontexten
Viele Produkte der Fermentation sind aus ihrem eigenen geographischen und kulturellen Kontext heraus entstanden, Rezepte wurden über Generationen von Hausmännern, Hausfrauen und Braumeistern weitergegeben und tradiert. Heutzutage sind es Köche, Wissenschaftlerinnen, selbsternannte Fermentierer, Fermenteurinnen und Fermentisten, welche wohl genau an dieser Schnittstelle zwischen Praxis und Theorie arbeiten und auf der ganzen Welt kulturübergreifend die schier unendlichen kulinarischen Möglichkeiten erkunden. Sie arbeiten auf Grundlage der Erfahrungen vieler vorheriger Generationen, nutzen mittlerweile verfügbares Wissen über die biochemischen Prinzipien und Vorgänge und machen vor allem eins: experimentieren. Die internationale Community tauscht sich in Facebook-Gruppen und in Reddits über Erfahrungen mit spezifischen Strains von Gießkannenschimmel und Mucorales aus, auf Instagram werden Grundlagen von verschiedensten Fermentationserzeugnissen live übertragen und Food-Youtuberinnen ernten mit ihren Tutorials Millionen von Klicks. Auf chinesischen Videoplattformen zeigen uns Jung und Alt, wie man in ihren Heimatdörfern Gemüse einlegt, wie man Bohnenpasten und Reiswein ansetzt und wie aus einer Vielzahl an weiß-gelben Sojabohnen, ein paar gemahlenen Weizenkörnern, einer guten Prise Salz und reichlich Quellwasser bei richtiger Umgebung das tiefschwarze vielseitige Würzmittel Sojasoße wird.In den kommenden Wochen und Monaten werden wir uns genauer anschauen, was es mit dieser Fermentiererei auf sich hat. Wir werfen einen Blick darauf, was in den Steinguttöpfen und Holzschubladen alles so passiert und stellen uns auch die vielleicht wichtigste aller Fragen: Warum wir das alles überhaupt wieder machen sollten – oder wahrscheinlich sogar müssen.