Future Perfect
Ali und der Klang der Bohnen
Ali Kawakita nimmt junge Menschen auf, die als Kinder von ihren Eltern misshandelt wurden. Mit schweißtreibender Feldarbeit oder beim handwerklichen Arbeiten hilft sein Projekt NOCA?! ihnen, ihren Weg zur Selbständigkeit zu finden.
An diesem Tag ist es heiß in Chiba. 34 Grad zeigt das Thermometer. Einfach nur herumlaufen reicht schon für einen Schweißausbruch. Unter den erbarmungslosen Strahlen der Sommersonne sind ein paar junge Menschen dabei, Unkraut zu jäten, das Feld zu pflügen und Gemüse zu ernten. Shûji, Yûtarō, Yōsuke und Shûto sind Teil des Projekts NOCA?! in der Stadt Tokemachi in Chiba, wo sie gemeinsam leben und arbeiten.
Iss mich!
„Hey, nicht drauftrampeln!“ ruft Shûto. Frau Haruka, Mitarbeiterin bei NOCA?!, hat ein paar sprießende Karotten übersehen. „Sorry!“ entschuldigt sie sich sofort. „Feld-Chef“ Shûto läuft der Schweiß vom Irokesenschnitt, den ihm ein Freund geschnitten hat. Kritisch begutachtet er den Zustand der wachsenden Soyabohnen. „Sind die erntereif?“ fragt er Frau Haruka. Ihre Antwort ist einfach: „Wenn du die Bohnen schreien hörst, 'Iss mich!', dann sind sie soweit!“ „Ganz schön mühsam, den Bohnen zuzuhören“, findet er. Und tut es trotzdem.Drei weitere Jugendliche kommen dazu. „Hey Shûto“, rufen sie, „schau mal nach dem Gemüse im Schatten!“. Man kann nicht einfach überall anbauen, haben sie gelernt. Ein kleines Wäldchen schützt empfindlichere Pflanzen vor der prallen Sonne. „Immer ich. So mühsam!“ beschwert sich Shûto. „'Mühsam', 'nervig' und 'sinnlos'“, erklärt Frau Haruka, „das sind die drei wichtigsten Wörter hier.“ „Hast eins vergessen“, fügt Shûto schnell hinzu. „'Müde' gibt’s auch noch!“ „Ja, ohne dieses Vokabular geht bei denen gar nichts“, murmelt Frau Haruka während sie sich die Soyabohnen anschaut. „Da, hörst du's nicht? Die rufen doch eindeutig 'Iss mich!'“. Shûto kann sich ein Lachen nicht verkneifen.
Shûto ist 17 Jahre alt. Als er wegen Ladendiebstahls verhaftet wurde, haben ihn seine Eltern verstoßen. NOCA!? half und bot Zuflucht. Jetzt hat er einen Traum: in einer Autowerkstatt eine Anstellung finden. Dafür muss er noch einiges lernen – zum Beispiel richtig schreiben und rechnen.
Jedes Schicksal ist anders
Als Ali vom Einkaufen für das Mittagessen zurückkommt, sind alle schon bei der Vorbereitung. Yûtarō ist besonders eifrig dabei. Mit Alis Hilfe bereitet er heute Eierreis zu. „Vor sechs Jahren, als ich 19 war, ist meine Mutter gestorben,“ erzählt er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Ich wurde aus unserem Haus geworfen und habe ein Jahr in Parks geschlafen. Durch eine Hilfsorganisation bin ich irgendwann hier gelandet.“„Meine Mutter hat in einer Bar gearbeitet und kam immer spät nachts nach Hause, meistens betrunken. Dann hat sie mich getreten, damit ich aufwache. Sie hat nie für mich gekocht, das musste ich alleine lernen.“ Mit NOCA?“ arbeitete er zudem als Volontär bei der Echigo-Tsumari Kunsttriennale: „Wir haben den chinesischen Bildhauer Cai Guo-Qiang unterstützt, bei seiner Arbeit mit Stroh. Später würde ich gerne bei der Eisenbahn arbeiten.“
Neben uns sitzt Yōsuke, der bisher stumm seinen Reis gegessen hat: „Ich wurde von meinen Eltern misshandelt,” sagt er leise. „So ab der fünften, sechsten Klasse habe ich angefangen, regelmäßig zu klauen. Als es zu Hause nicht mehr ging, bin ich abgehauen und habe angefangen in einer Fabrik zu arbeiten. Das Geld hat aber nicht zum Leben gereicht, deshalb haben meine alten Lehrer mir geraten hierher zu kommen. Sie waren quasi mein Elternersatz. Schon in der Grundschule haben sie mir Schulausflüge bezahlt, oder mir Schuhe geschenkt, wenn ich keine hatte. Deswegen ist es mein Traum, später auch mal so ein Lehrer zu werden. Jemand, der denen hilft, die Hilfe brauchen.”
Shûji will lieber nichts erzählen. „Ich habe keinen Traum”, sagt er nur. „Shûji kam von einer Besserungsanstalt zu uns”, vertraut Ali uns an. „Aber es geht aufwärts. Neulich hat er zum ersten Mal richtig Geburtstag gefeiert. Wir waren zusammen Ramen essen. Und ab morgen hat er auch einen kleinen Job, er hilft einem Laden hier beim Umzug. Shûji kann richtig gut mit anpacken!” „Und wie!”, pflichtet Frau Haruka bei. „Shûji ist ein echter Holzfällertyp, ein richter Kerl!”
Für uns ist das hier unser Zuhause
Als Ali das NOCA!?-Projekt begann, hat er den Jugendlichen für ihre Feldarbeit noch Lohn ausgezahlt. Doch die ersten Schützlinge des Projekts waren dagegen. „Für uns ist das hier unser Zuhause“, sagten sie. „Für das Mithelfen zu Hause bekommt man doch kein Geld! Das passt einfach nicht.“ Stattdessen versuchte man den Jugendlichen langfristig Arbeitsstellen zu verschaffen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Daraus entwickelte sich dann die regionale Initiative „Hände der Stadt“, durch die Arbeitskräfte für alle möglichen kleinen Arbeiten vermittelt werden. Außerdem wird der Überschuss der Gemüseernte an den „Community-Salon“ in der nahegelegene Stadt Tokemachi verkauft.„Die jungen Leute hier hatten alle Probleme, kein Zweifel“, sagt Ali. „Aber wenn die Gesellschaft sie dabei unterstützt, dann können sie ihr Schicksal ganz sicher wenden und zusammen auf einen besseren Weg kommen. Ich glaube fest daran, dass es immer besser ist, der Gesellschaft auf die Sprünge zu helfen, damit sie einen Platz für diese jungen Menschen findet; und dass man sie nicht umgekehrt solange zu Recht stutzt, bis sie irgendwie in die Gesellschaft passen. Sie kommen aus einem Umfeld, dass sie nie willkommen geheißen hat. Jetzt liegt es bei uns, dafür zu sorgen, dass sie eine Gesellschaft entdecken, in der sie willkommen sind. So! Aber jetzt ist es mal Zeit, dass es weitergeht!“ Ali steht von seinem Stuhl auf. Der Nachmittag wird wieder heiß werden. Und für NOCA!? hat die eigentliche Arbeit gerade erst begonnen.