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Medientrends in Ostasien
Im Wissensrausch

Medientrends in Ostasien
Digitalisierung ist kein globaler Selbstläufer, sondern eng an die Geschichte, Politik und Kultur des jeweiligen Landes geknüpft - und an den Umgang der Staaten mit der Corona-Pandemie. | Illustration: © Zhang Xiaoha

Zwischen Innovation, Skepsis und Effizienz-Denken: China, Japan und Südkorea suchen noch ihren eigenen Weg in die Hyper-Informationsgesellschaft.

Von Boris Hänßler

In dem Museum teamLab Borderless in Tokio gibt es einen Raum, in dem Lichteffekte einen mystischen Wasserfall erzeugen. Obwohl man keine 3D-Brille trägt, hat man das Gefühl, mitten in einer virtuellen Realität zu sein. In einem anderen Raum legt man sich auf den mit Polstern belegten Boden, sieht Wellen um sich herum aufsteigen und lauscht dem Meeresrauschen. Es ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie immersiv digitale Inhalte sein können. Während des letzten Jahrzehnts stieg das Interesse an virtueller Realität und künstlicher Intelligenz in Japan immens, ebenso die Zahl der Start-ups. Das Land steht aber erst am Anfang seines Weges in eine „Hyper-Informationsgesellschaft“, und der Weg dorthin ist steinig: Blickt man tief in die japanische Gesellschaft, begegnet man Misstrauen sowohl gegenüber der traditionellen Institutionen als auch der digitalen Transformation. Zudem offenbarte die Corona-Pandemie, dass Japan bei der Einbindung digitaler Technologien in den Lehrplan anderen Ländern hinterher hängt. Eine Umfrage des Bildungsministeriums im April 2020 ergab: Nur fünf Prozent der zuständigen Behörden planten Online-Unterricht, als die Schulen geschlossen waren.

Drei Studien der Goethe-Institute in Toyko, Peking und Seoul untersuchen die digitalen Medientrends in Japan, China und Südkorea jenseits von Klischees und Selbstvermarktung. Schwerpunkt der Untersuchung ist das Thema „Wissen“: Welche Bedeutung hat es in einer digitalisierten Gesellschaft? Wie informieren sich die Menschen und bilden sich weiter? Die Autor*innen der Studien zeichnen ein ambivalentes Bild zwischen Enthusiasmus, Routine und Misstrauen. Sie offenbaren auch, dass Digitalisierung kein globaler Selbstläufer ist, sondern eng an die Geschichte, Politik und Kultur des jeweiligen Landes geknüpft - und an den Umgang der Staaten mit der Corona-Pandemie. In Japan hat darüber hinaus die Fukushima-Reaktor-Katastrophe tiefe Narben hinterlassen.

Innovation vs. Misstrauen

„Warum Japaner Technik-Fetischisten sind“, titelte die Welt noch 2010. Von Deutschland aus gesehen hat Japan immer noch das Image eines digitalen Vorreiters. Das Bild ist geprägt von Innovationen wie Robotern, Künstlicher Intelligenz (KI), Playstation, dem QR-Code und insbesondere Otaku. Letzteres steht für eine Subkultur aus Gamern, Anime-Fans, Gadget-Nerds. Der Begriff Otaku bezeichnete einst alleinstehende Männer mittleren Alters, die von Mädchen in Schuluniformen schwärmten. Mit der Digitalisierung hat sich das Bild gewandelt, vergleichbar mit dem der westlichen Nerds und Geeks: Otaku ist ein eigenständiger Stil der Manga- und Anime-Kunst und für Jugendliche beiderlei Geschlechts attraktiv. Die Regierung pflegt solche Trends, da sie den Konsum fördern und die Wirtschaft ankurbeln.

Aber es gibt auch ein anderes Bild: ein Misstrauen gegenüber traditionellen Medien und der Digitalisierung. Das Misstrauen lässt sich zurückführen auf die Katastrophe in Fukushima, in der Informationen aufgrund einer Abneigung, Autoritäten in Frage zu stellen, unterdrückt wurden – und wegen einer weit verbreiteten Gruppenloyalität. Japaner*innen identifizieren ihre Rolle und Position in der Gesellschaft durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – sei es bei der Arbeit, in der Schule, oder im Verein. Nicht Teil einer Gruppe zu sein, bedeutet, nicht Teil der Gesellschaft zu sein. Soziale Medien haben deshalb nicht wie in westlichen Ländern die Funktion, den Freundeskreis zu erweitern, sondern bestehende Verbindungen zu festigen. Die Social Media- und Messenger-App LINE ist deshalb so erfolgreich, weil sie bei kleinen Gruppen Zusammenhalt und Verlässlichkeit stärkt.

Vermutlich war auch deshalb Bildung in Japan noch bis vor kurzem weitgehend analog. In Corona-Zeiten gaben viele Schulen ihren Schüler*innen Drucksachen für die Hausaufgaben mit – groß war die Angst, Schüler*innen ohne Netzzugang auszuschließen. Japan galt bei der Digitalisierung von Schulen gar als Entwicklungsland, da die Infrastruktur nur langsam ausgebaut wurde. Das hat sich mit der Pandemie geändert: Der 2018 verabschiedete Plan, 3,5 Milliarden Euro bis 2025 in die Digitalisierung  der Schulen zu investieren, soll schon bis Ende des Jahres umgesetzt werden. Bis dahin gibt es „Hybridklassen“, in denen die Schüler*innen wählen, ob sie zur Schule gehen oder online Unterricht nehmen möchten. Zudem treiben eine wachsende Zahl an Privatunternehmen das Lernen mit Künstlicher Intelligenz voran, etwa atama+, ein Lernsystem, das KI nutzt, um Lernschwächen der Schüler*innen zu identifizieren.

Effizienz ist alles

In China wissen die Lehrenden in einigen Schulen, wann jemand abgelenkt ist. Die Schüler*innen tragen Stirnbänder, die den Konzentrationsgrad messen. Das Gerät hat drei Elektroden, zwei hinter den Ohren und einen auf der Stirn. Sie messen elektrische Signale, die von den Neuronen im Gehirn gesendet werden. Die Daten werden in Echtzeit an Lehrende gesendet, so dass diese zum Beispiel beim Lösen von Mathe-Aufgaben sehen, wer aufmerksam ist. Die Funktionalität ist wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt, aber die Lehrenden sagen, dass die Schüler*innen besser aufpassen, mehr lernen und bessere Noten erzielen.

Eine geringe Aufmerksamkeitsspanne ist ein Problem, mit dem viele Menschen in China – und nicht nur dort - zu kämpfen haben. Wissen muss effizient sein, idealerweise Multitasking-geeignet. Das ist der Grund, warum Apps wie Douyin (in Deutschland als TikTok bekannt) mit Kurzvideos so populär sind. Laut dem China Network Audiovisual Development Research Report von 2021 haben etwa 88 Prozent aller chinesischen Internetnutzer*innen schon Kurzvideos konsumiert - das sind 873 Millionen Menschen. Knapp die Hälfte der Nutzer*innen lud auch eigene Videos hoch – wobei Vorsicht geboten ist. Wenn es um kritische politische Positionen geht, greift die Regierung ein. Staatspräsident Xi Jinping sieht das Internet vor allem als Medium, in dem die korrekte politische Linie verbreitet werden soll. Seine Regierung hat zum Beispiel populäre US-Websites wie Google, Facebook und Twitter blockiert. Meist geht es daher in den Kurzvideos um Alltagsmomente, Tourismus, Humor, Essen oder Musik. Es gibt auch Wissens-Videos, jedoch ist Wissen und Pseudowissen nicht immer leicht zu trennen. So informieren sich Teenager über Kurzvideos zu sexuellen Fragestellungen und erfahren, dass Verhütungspillen unfruchtbar machen oder Pilzinfektionen im Intimbereich mit Joghurt behandelbar sind. Es ist schwierig, seriöses Wissen in wenige Sekunden zu pressen.

Wissen in Scheibchen

Das Effizienz-Denken geht soweit, dass sich etwa jeder dritte Nutzer von Online-Video-Diensten, die vergleichbar mit Netflix sind, Filme mit doppelter Wiedergabe-Geschwindigkeit anschaut. Umso widersprüchlicher ist der Erfolg von Life-Streaming. Der Video-Produzent Li Jiayi wurde zum Star, weil er in einem dreistündigen Stream 380 Lippenstifte testete. Seitdem dreht er Videos, die eine Vermischung aus Produkt-Werbung, Verbraucher-Infos und Reviews sind. Live-Streamer*in ist ein staatlich anerkannter Beruf. Führende Plattformen sind Douyu, Huya, Huajiao und YY. Zwar steht auch hier Unterhaltung im Mittelpunkt, aber als landesweit Millionen von Schüler*innen von Schulschließungen betroffen waren, hatten die Streaming-Anbieter Bildungsangebote einbezogen. Im Vergleich zu Online-Kursen ist beim Streamen eine Echtzeit-Interaktion möglich. Live-Streams sind zudem kostengünstig, da nicht nachbearbeitet werden muss. Museen und Theater experimentieren ebenfalls damit.

Die soziale Interaktion ist beim Wissenserwerb in China ein weiterer wesentlicher Aspekt. Gut die Hälfte der chinesischen Online-Nutzer nahmen bereits einmal an Massive Open Online Course (MOOC) teil -  angefangen von Kleinkindern unter sechs Jahren bis zum Senioren. Bei dieser Art der Online-Bildung wird die Wissensvermittlung per Video in etwa 15-minütige „Scheibchen“ geteilt. Es gibt interaktive Übungen, und die Prüfungen sind oft automatisiert, wodurch es möglich ist, hohe Teilnehmer*innen-Zahlen zu managen. Überhaupt ist China kreativ darin, kostengünstig digitale Angebote aufzubauen. Viele öffentliche Bibliotheken haben ihre Bestände über den Library Service in der äußerst populären App WeChat integriert: Nutzer*innen können den Katalog durchsuchen oder E-Books ausleihen. Für Bibliotheken ist diese Kooperation eine kostengünstige Lösung, zumal sie damit ein großes Publikum erreichen. 78 Prozent aller Chines*innen zwischen 16 und 64 Jahren haben einen WeChat Account, mit dem sie auch Fahrräder leihen, Kredite aufnehmen oder Essen bestellen können.

Weltmeister im Surfen

Während über die Situation in Nordkorea wenig bekannt ist, haben in  Südkorea  99,5 Prozent aller Haushalte einen Zugang zum Internet – ein weltweiter Rekord. Grund dafür ist der konsequente Ausbau der IT-Infrastruktur. Die Regierung hat verkündet, in den nächsten drei Jahren weitere etwa 500 Millionen Euro zu investieren, um mehr als 50.000 Schulen sowie Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs mit WLAN auszustatten. Das macht sich auf vielerlei Weise bemerkbar: So informieren sich 85 Prozent der Menschen ausschließlich über Online-Medien – in Deutschland sind es zum Vergleich 69 Prozent. Dies macht sich deutlich im öffentlichen Raum bemerkbar: In der U-Bahn nutzen Menschen aller Altersklassen ihre Smartphones, und selbst beim Spaziergang am Fluss hören sie laut Musik über YouTube.

Etwa ein Drittel der Jugendlichen ruft nahezu täglich Lerninhalte auf YouTube ab. Aufgrund der ausgereiften Algorithmen, die Nutzer*innen Videos vorschlagen, ist YouTube auch bei älteren Menschen populär, die mit der selbstständigen Internetrecherche wenig vertraut sind. Zudem sind Sprachlern-Videos gefragt, während Offline-Sprachschulen immer mehr an Boden verlieren. Ähnlich wie in China ist soziale Interaktion immer ein wichtiger Bestandteil des digitalen Wissenserwerbs Ein Beispiel ist die Popularität des Social Reading. Zahlende Mitglieder können auf der Plattform Trevari Buch-Clubs beitreten – davon gibt es mehrere Tausend. Sie haben einen „Clubleiter“, der oft Experte in einem Bereich der Kultur oder Wissenschaft ist. Die Mitglieder lesen wöchentlich ein Buch, verpflichten sich, eine Buchkritik zu schreiben, an Diskussionen teilzunehmen und mitunter vorgeschlagene Aufgaben zu lösen. So wird Lesen und Lernen wieder vereint, trotz des Trends, Wissen audiovisuell aufzunehmen.

Selbsternannte Expert*innen

Bildung spielt in der südkoreanischen Gesellschaft generell eine wichtige Rolle. Die Wurzeln dafür liegen zum einen in der jüngeren Geschichte. Nach dem Koreakrieg von 1950 bis 1953 und der anschließenden Teilung der koreanischen Halbinsel zählte das Land zu den ärmsten der Welt. In den 60er Jahren richtete der autoritäre Präsident Park Chung-hee die Wirtschaft konsequent auf eine export-orientiere Industrie aus –  sie sorgte für einen rapiden Aufschwung, was eine hohe Nachfrage an qualifizierten Fachkräften mit sich  brachte. Hinzu kommt, dass im Konfuzianismus, der in dem Land stark verbreitet ist, Bildung ohnehin einen hohen Stellenwert hat. Für Eltern ist eine gute Ausbildung der Kinder unverzichtbar, weshalb private Bildungsinstitute, Hagwons, in denen die Kinder früh Englisch lernen, ein hohes Ansehen genießen.

In Südkorea ist die Mitwirkung an der Wissens-Produktion daher am stärksten ausgeprägt. Portale wie Naver und Daum motivieren die Nutzer*innen, möglichst selbst Wissensinhalte zu produzieren. Dafür gibt es „Wissen iN“, Blogs und „Cafés“. „Wissen iN“ ist eine „Q&A“-Plattform, auf der bei juristischen oder medizinischen Fragen Experten eingeschaltet sind – auf diese Weise garantiert Naver eine gewisse Qualität bei den Antworten. Naver bemüht sich generell sehr um die Loyalität der Nutzer. Während in Deutschland Blogger*innen häufig eigenständige Wordpress-Seiten betreiben, bietet Naver seinen Blogger*innen eine höhere Reichweite – zumal Südkoreas jüngerer Generation dank des Erfolgs der K-Pop-Kultur das Interesse der Welt bereits auf sich gelenkt hat.

In Deutschland hatte der WDR mediagroup in einer Studie von 2014 über die prognostizierte Mediennutzung im Jahr 2024 den Trend, dass jeder zum Autor, Experten oder Produzenten wird, als problematisch bezeichnet. User-Generated Content blähe das Internet auf, die Trennung zwischen kommerziellen und journalistischen Inhalten falle schwer, die Personalisierung der Medieninhalte münde in einer selbst-zentrierte Isolation, bei der man im eigenen Saft schmore. Dabei war das zu kurz gedacht. Der Blick auf die drei asiatischen Länder zeigt: Die Wissensgesellschaft wird mit der Digitalisierung eher vielseitiger – das Interesse an Wissen ist eher gestiegen, aber mit ihr eben auch die Herausforderungen.

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