20 Jahre koreanische Indie-Musik
Selbstgemacht klingt besser

Koreanische Popmusik gleich K-Pop? Seit der Sänger PSY im Jahre 2012 mit seinem Hit „Gangnam Style“ weltweit erfolgreich war und die als „Hallyu“ bezeichnete koreanische Welle auch nach Europa und Amerika herüberschwappte, mag man im Ausland wohl leicht zu dieser Einschätzung kommen. Doch in Korea gibt es seit nunmehr 20 Jahren auch eine enthusiastische Indie-Musik-Szene, die vor allem im Seouler Hongdae-Viertel beheimatet ist und sich durch zahlreiche talentierte Musiker und große stilistische Vielfalt auszeichnet.
Die koreanische Indie-Musik wird oft mit dem Begriff „Hongdae“ in Verbindung gebracht. Denn ohne das besondere Umfeld des Hongdae-Viertels in Seoul ist die koreanische Indie-Musik gar nicht vorstellbar. Die zahlreichen Live-Clubs um die U-Bahn-Station am Eingang der Hongik University sind der Ort, an dem die koreanische Indie-Musik-Szene ihre Heimat hat. Auch nach 20 Jahren koreanische Indie-Musik hat sich an der engen Verbindung zwischen diesem Ort und der Musik nichts geändert. Auch heute noch ist das Hongdae-Viertel der Ort, an dem man jederzeit live Indie-Musik hören kann; an dem die Künstler sich eine Bühne suchen; und an dem das Publikum sich versammelt, um sich gemeinsam an der Musik zu erfreuen.
Das Geburtsdatum der südkoreanischen Indie-Musik-Szene lässt sich im Jahre 1995 ansetzen, als das „Gedenkkonzert zum ersten Todestag von Kurt Cobain“ stattfand, oder auch im Jahr 1996, als das erste koreanische Indie-Album Our Nation erschien. Der Begriff „Indie“ ist in Korea jedoch nicht unumstritten. Gegen Ende der 1990er Jahre, als die Indie-Musik in Korea entstand, war der gesamte hiesige Musikmarkt – auch der, den man als „Mainstream-Markt“ und damit als Gegenstück des „Indie“ hätte charakterisieren können – noch so klein, dass eine Unterteilung in „Mainstream“ und „Off-Mainstream“ im Grunde kaum Sinn ergab. So herrscht heute weitgehend die Ansicht vor, dass der Begriff der koreanischen „Indie-Musik“ weniger als systematische Definition, sondern eher im Sinne einer bestimmten Einstellung zur Musik zu verstehen ist.
Abschaffung der Zensur und Homerecording
Die frühe Stunde der koreanischen Indie-Musik: „Deep in the Night“ (2001) von Crying Nut (Quelle: YouTube)
Ein wichtiges Signal für die Entstehung der koreanischen Indie-Musik-Szene war die Aufhebung der Zensurgesetze der koreanischen Plattenindustrie, deren Geschichte bis in die japanische Kolonialzeit zurückreichte. Das staatliche Zensur- und Kontrollsystem für Musikproduktionen wurde auch nach der Befreiung Koreas fortgesetzt. Stücke, die nicht auf Propagandalinie der jeweiligen Regierung lagen, wurden vollständig verboten und waren in den Medien nicht zu hören. Viele Musiker setzten sich im Laufe der Zeit für die Abschaffung dieses Zensursystems ein. Doch erst, als die in den 90er Jahren überaus erfolgreiche Gruppe Seo Taeji and The Boys in der Öffentlichkeit verstärkt auf die Problematik hinwies, wurde die Zensur im Jahre 1996 endlich aufgehoben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Weiterentwicklung der Homerecording-Technik. Diese ermöglichte es jedem, seine eigene Musik einfach zu Hause zu produzieren, sodass sich für die Musiker das Grundrecht auf Ausdrucksfreiheit nun tatsächlich verwirklichen ließ. So verbesserten sich die Bedingungen für die musikalische Eigenproduktionen im eigenen Studio – die Vermarktung blieb in den meisten Fällen jedoch weiterhin schwierig.
Die Macht der Massenmedien
Musiker und Musikstücke, die von Großagenturen produziert wurden – Inhalte, die heute unter dem Label „K-Pop“ bekannt sind – wurden herkömmlicherweise über die zahlreichen Programme des massenorientierten Rundfunks beworben, um so innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Gewinne einfahren zu können. Neu erscheinende Alben waren so komplett auf den Rundfunk angewiesen, und umgekehrt benötigte dieser ständig neue Musik für seine Programme. Die koreanischen Indie-Musiker waren bemüht, aus diesem Kreislauf auszubrechen und ihre Musik nicht so sehr am Geschmack der Masse, sondern vor allem an ihren eigenen Vorlieben auszurichten. Die südkoreanischen Massenmedien ihrerseits hatten aber kein Interesse daran, sich von den beliebten Genres und massentauglich herausgeputzten Stars der gutorganisierten Agenturen abzuwenden.
Erst heute, wo die Musik, die früher auf Kassette oder CD gehört wurde, nicht nur auf MP3 gehört werden kann, sondern sich auch das Streaming etabliert hat und wo man über das Smartphone und die verschiedenen soziale Netzwerke mit der ganzen Welt verbunden ist, bieten sich neue Möglichkeiten, Musik jenseits des herkömmlichen Rundfunks zu promoten. Nun sind es oftmals sogar die Hörer selbst, die für die Promotion ihrer Lieblingsmusik sorgen. Auch heute noch ist die koreanische Indie-Musik im Gegensatz zum K-Pop in Rundfunk und Charts zwar vergleichweise wenig vertreten. Doch bei den Musikern hält sich die Überzeugung, dass sie auf diese Weise ohne Zwänge ihre eigene Musik produzieren können – eine Musik, an die sie selber glauben.
Vom Punk zur Vielfalt
Musikvideo der Indie-Star-Band Kiha and The Faces zum Titel „A sort of relationship“ (2011) (Quelle: YouTube)
Ein Teil der Szene sei in den Anfangsjahren ziemlich „freaky“ gewesen, sagen Musiker, die seit vielen Jahren im Bereich der Indie-Musik tätig sind. Die Szene galt für viele als mögliches Sprungbrett für eine Karriere im Mainstream: es wurden vor allem Hits für Veranstaltungen produziert, und man nahm beispielsweise an Events im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft in Korea und Japan im Jahre 2002 teil. Ansonsten folgte die koreanische Indie-Musik im Wesentlichen der Stilrichtung Punk, was sicher auch dem Einfluss der Band Crying Nut, einer Indie-Band der ersten Stunde, geschuldet war.
Etwa zehn Jahre nach ihrer Entstehung leitete die koreanische Indie-Musik-Szene mit erfolgreichen Gruppen wie Kiha and The Faces, The Black Skirts, Guckkasten und Annyeongbada eine Art Indie-Renaissance ein, die durch die Beobachter der Szene insgesamt positiver beurteilt wurde. Die Gruppe Annyeongbada blickt daher hoffnungsvoll in die Zukunft: „Wenn die verschiedenen Künstler mit vereinten Kräften weiterhin jeweils ihren eigenen Stil verfolgen, wird sich die Szene von ganz alleine weiter vergrößern und entwickeln.“ Der Samen der Vielfalt, der einst von der Indie-Szene gesät wurde, geht nun auf: dank der vielen Musiker, die abseits jeder musikalischen Herdenmentalität ihren eigenen individuellen Projekten nachgehen, und dank der Hörer, die diese Musik aufzuspüren und zu schätzen wissen. Hin und wieder kommen inzwischen auch Musikfreunde außerhalb Koreas in den Genuss koreanischer Indie-Musik. So zum Beispiel im Falle der Bands Jambinai und Idiotape, die auch im Ausland touren.
Die koreanische Indie-Musik heute
Das Musikvideo der Band Hyukoh zu ihrem Debüt-Titel „Wi ing wi ing“ (2014), mit dem sie seinerzeit einen regelrechten Hyukoh-Boom auslöste (Quelle: YouTube)
Inzwischen finden im ganzen Land alternative kulturelle Veranstaltungen wie Indie-Musik-Konzerte statt, aber dennoch kann man sagen, dass unverändert die alte Formel gilt: „Indie-Szene = Hongdae-Viertel“. Hier drängen sich die Live-Clubs und Bühnen, und hier ist der Schauplatz zahlreicher alternativer Kulturveranstaltungen. Das „Gedenkkonzert zum ersten Todestag Kurt Cobains“, das als Geburtsstunde der koreanischen Indie-Szene gilt, die Street Punk Show und das erste Indie-Album Our Nation haben ihre Ursprünge im hiesigen Live-Club Drug, der mittlerweile unter dem Namen DGBD geführt wird. Die gegenwärtigen Indie-Musiker treten nach wie vor vor allem im Hongdae-Viertel auf. Die Live-Clubs haben zwar inzwischen ihre Label-Funktion verloren, die Sammelalben, die von Clubs wie dem Club Bbang oder dem Jebidabang produziert werden, spielen aber nach wie vor eine wichtige Rolle.
Im Laufe von 20 Jahren ist die Zahl der Bands angewachsen, und auch die musikalische Qualität und Vielfalt haben sich gesteigert. Indie-Musiker, die früher nur für sich produziert haben, treten mittlerweile auch öfter im Rundfunk in Erscheinung, und in den großen Agenturen und Vertriebsgesellschaften sind untergeordnete Labels entstanden, die auch Indie-Musiker unter Vertrag nehmen. Die gereifte koreanische Indie-Szene ist komplexer geworden, und die Genregrenzen verschwimmen noch mehr als zu Beginn. An dem Geist der „selbstgemachten Musik“, den man gewissermaßen als das Erbgut der Indie-Musik bezeichnen könnte – dem Standpunkt, seine Musik selbst gestalten und durch sie individuelle künstlerische Überzeugungen vertreten zu wollen – hat sich jedoch nichts geändert. Die Hörer wissen ganz genau: Selbst wenn koreanische Indie-Musiker sich mit Rundfunkauftritten einen Namen machen und eine gewisse Berühmtheit erlangen, wird man sie doch nie in die Kategorie K-Pop einordnen können.