Ludwig van Beethoven
Der gehörlose Visionär

Beethovens Gehörlosigkeit ist kein Geheimnis. Welche Strategien wand er an, um dennoch weiterhin kreativ zu wirken? 250 Jahre nach seiner Geburt diskutiert die Wissenschaft Ursachen und Folgen seiner Erkrankung.
Von Matthias Bischoff
Für den musikalischen Laien grenzt es an ein Wunder: Wie konnte ein Mensch wie Ludwig van Beethoven, der bereits ab seinem 28. Lebensjahr schwerhörig war und in den letzten Jahren seines Lebens den vollständigen Verlust seines Gehörs zu beklagen hatte, seine unvergleichlichen Werke schaffen?
2020 jährt sich Beethovens Geburtstag zum 250. Mal, und es ist wenig erstaunlich, dass rund um dieses Jubiläum zahlreiche Studien zu allen Aspekten seines Schaffens und Lebens erschienen sind, insbesondere auch über seine Taubheit. Einige sind zu verblüffenden Ergebnissen gekommen. Natürlich hat Beethoven als einer der herausragenden Pianist*innen und Komponist*innen seiner Epoche extrem darunter gelitten, dass er seinen Beruf mit zunehmender Krankheit immer weniger ausüben konnte. Vor allem aber litt er unter den sozialen Folgen. „Sobald ich tot bin“, bat er in seinem bereits mit 32 Jahren verfassten Heiligenstädter Testament, solle sein Arzt so viel wie möglich von den Begleitumständen der Taubheit bekannt machen, „damit wenigstens so viel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde.“ Und diese Versöhnung war durchaus notwendig, denn die Kommunikation mit dem überdies von Stimmungsschwankungen beherrschten Genie wurde mit den Jahren immer schwieriger. Er brüllte und hielt lange Monologe, übermäßiger Alkoholgenuss und diverse andere Krankheiten kamen erschwerend hinzu.
Der Versuch, die Welt mit sich zu versöhnen: Beethovens „Heiligenstädter Testament“. | Foto (Detail): © picture alliance/akg-images
Der neidische Dämon spielt einen schlimmen Streich
Woran genau der Musiker litt, lässt sich heute aus Zeugnissen seiner Zeitgenoss*innen, Briefen und Aufzeichnungen rekonstruieren. 1801, im Alter von 31 Jahren, schildert Beethoven seine Symptome in einem Brief: „Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden, nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort ... Seit zwei Jahren meide ich alle Gesellschaften, weils mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgend ein anderes Fach so gings noch eher, aber in meinem Fach ist es ein schrecklicher Zustand … Die hohen Töne von Instrumenten und Singstimmen höre ich nicht, wenn ich etwas weit weg bin, auch die Bläser im Orchester nicht. Manchmal auch hör ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht, und doch, sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich.“ Der emeritierte HNO-Professor Hans-Peter Zenner fasst die daraus resultierende Diagnose zusammen: „Schwerhörigkeit mit Hochtonverlust und Sprachverständlichkeitsverlust, Tinnitus, Verzerrungen und Hyperakusis, also eine Überempfindlichkeit für Schall.“ Und er kommt zu dem wenig überraschenden Schluss: „Nach dem damaligen Stand der Medizin war Beethovens Leiden nicht heilbar.“
Wäre Beethoven ohne seine Taubheit noch Beethoven?
In den vergangenen Jahren ist in der Wissenschaft eine kontrovers geführte Diskussion darüber entstanden, ob Beethovens Gehörverlust seine Kompositionen beeinflusst habe. Einige Forscher wollen in der Verwendung von weniger Tönen mit einer hohen Tonfrequenz – die auf der Notenskala über G6 liegen, entsprechend einer Frequenz von 1.568 Hertz – ein Indiz für diese direkte Wirkung sehen. Denn Beethoven konnte hohe Töne, die von den Musikern gespielt wurden, immer weniger hören. Er komponierte daher in den Werken seiner mittleren Jahre mehr mit Tönen im mittleren Frequenzbereich. In seinem Spätwerk bis zu seinem Tod 1827 habe er sich dann jedoch ganz auf sein inneres Hören verlassen und die gesamte Bandbreite der Töne verwendet. Doch die These bleibt umstritten, andere Forscherteams behaupten, dass genau das Gegenteil der Fall sei, wieder andere sind sich sicher, dass die Entwicklung des ungeheuerlichen Musikschaffens allein aus der inneren Gesetzmäßigkeit seines immer neue Grenzen überwindenden Komponierens zu erklären sei – ob er selbst hätte hören können oder nicht, sei völlig unerheblich.