Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

28. Dezember 2022
Realien oder wie unbekannte Begriffe auch in der Zielsprache lebendig werden

Ronya Othmann
„Die Sommer“, das Ronya Othmann auf Deutsch verfasste | Foto (Detail): © Hanser Verlag / © Cihan Cakmak

Selbst wenn Übersetzer und Übersetzerinnen versiert in „ihrer“ Fremdsprache sind, werden sie immer wieder mit Ausdrücken der Ausgangssprache konfrontiert, die auf Realitäten verweisen, die in der Kultur, in deren Sprache sie das Werk übersetzen wollen, unbekannt sind.

Von Sabine Müller

Auch wenn das Internet die Arbeit des Nachschlagens enorm erleichtert, gehören spezifische zwei- oder einsprachige Wörterbücher, Lexika und thematische Nachschlagewerke zu den ständigen Begleitern für literarische Übersetzer*innen. Hier finden sie begriffliche Definitionen und Erklärungen, die für das Verständnis des fremdsprachigen Textes und für die Übertragung in die Zielsprache unerlässlich sind. Selbst wenn Übersetzer und Übersetzerinnen versiert in „ihrer“ Fremdsprache sind, werden sie immer wieder mit Ausdrücken der Ausgangssprache konfrontiert, die auf Realitäten verweisen, die in der Kultur, in deren Sprache sie das Werk übersetzen wollen, unbekannt sind. Sie betreten damit die Welt der sogenannten Realien oder Realia, das heißt die Welt der Dinge und Sachverhalte des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik usw. in einem bestimmten Land oder an einem bestimmten Ort, welche keine Entsprechung bei Sprechern anderer Sprachen in anderen Ländern oder an anderen Orten haben.

Im Buch „Die Sommer“, das die Autorin Ronya Othmann auf Deutsch verfasste, führt die Protagonistin Leyla den Leser an einen Ort, der eine Fülle von Realien bietet. Leyla verbringt ihre Sommerferien mit ihren Eltern im kurdischen Dorf der Familie väterlicherseits. Das Dorf, das Haus der Großmutter, der Hof des Hauses, die umliegende Landschaft mit ihren Feldern, Bergen und dem entfernten Horizont entsteht vor den Augen der Leser*innen, auch wenn diese in einer anderen Region oder Land leben. Um eine Übersetzung ebenso lebendig erscheinen zu lassen, tauchen Übersetzer*innen noch tiefer in die geografischen Besonderheiten der einzelnen Schauplätze ein. Auf der Lectory-Plattform bietet Ronya Othmann im Austausch mit den Übersetzer*innen neben textlichen Erläuterungen zu einzelnen Begriffen auch Fotografien an, die ein konkreteres Bild von der Landschaft etwa hinsichtlich farblicher Besonderheiten ermöglichen.

Ein Beispiel:
„(…) Ringsum lagen Felder, und hinter den Feldern erhob sich in der Ferne eine Bergkette, die Grenze zur Türkei. Hätte Leyla nicht gewusst, was sich an dieser Grenze abgespielt hatte, vielleicht hätte sie die Berge schön gefunden. Das Haus war aus demselben Lehm wie die Landschaft und hatte auch ihre Farbe. Allerdings war Leyla immer nur in den Sommern im Dorf gewesen. (...)“

Von der Schwester und den Schwestern

In vielen Sprachen, unter anderem im Deutschen, finden sich Bezeichnungen für Familienmitglieder in weiteren gesellschaftlichen Kontexten. So kann der Bruder ein Weggefährte, ein vertrauter Freund sein, der mit dem Sprechenden nicht blutsverwandt ist. „Mutter“ oder „Vater“ dienen als ehrenvolle Anredeformen.

Das Buch Die Sommer beginnt mit einer auf Kurdisch geschriebenen Widmung. Wer des Kurdischen nicht mächtig ist, kann sich den Sinn hinter diesen Worten kaum erschließen:
„Ji bo bavê min, ji bo malbata min, ji bi xwişkên min. Berxwedan jîyane.“

Die Übersetzer*innen des Social Translating Projekts erfahren aus erster Hand, welche Bedeutung die Widmung hat. Die Autorin Ronya Othmann spricht Kurdisch und wählte diese Widmung bewusst einsprachig. Im Austausch auf der Plattform gibt sie den Übersetzer*innen nicht nur die deutsche Übersetzung der Zeilen zur Hand, sondern fügt für einen der Begriffe noch eine Anmerkung hinzu. Ronya Othmann schreibt:
„Für meinen Vater, für meine Familie, für meine Schwestern* (Anmerkung: wird auch für Freundinnen verwendet). Widerstand ist Leben.“

Im Kontext der kurdischen Sprach-Kultur wird der Begriff „Schwester“ ebenfalls in einem erweiterten Zusammenhang verwendet. Für die Übersetzer*innen des Buches stellt sich nun aber auch die Frage, wie sie die Widmung in ihre Zielsprache übertragen. Mehrere Möglichkeiten sind gegeben: So lässt sich der kurdische Originaltext ohne Übersetzung als Widmung voranstellen, so wie es die Autorin für ihr Originalwerk entschieden hat. Oder aber die Übersetzerin übersetzt das Zitat in ihre Zielsprache. Eine weitere Variante schlägt der Übersetzer Hendarto Setiadi, der den Titel ins Indonesische überträgt, vor:
„Hier wäre es vielleicht schön, den Originaltext so stehen zu lassen und die Übersetzung als eine Art Untertitel hinzuzufügen.“

Der Klang der Instrumente und der Geschmack von Gebäck

Zu den Realien gehören auch die unterschiedlichen Musikinstrumente an einem bestimmten Ort, die in anderen Ländern oder Regionen nicht gespielt werden und für die es keine Entsprechung im Wörterbuch gibt. Ein solches Instrument ist die Saz. Sie ist zwar weitverbreitet und vielen Lesern nicht unbekannt, wenn sie in einem literarischen Text erwähnt wird, aber dennoch ist es hilfreich, das Saiteninstrument mit seinem bauchigen Korpus vor Augen zu haben.

Ronya Othmann schreibt an einer Stelle im Roman:
„Es war der späte Sommer 1973. Ich war zwölf Jahre alt und ging schon in der Stadt zur Schule. Wenn ich frei hatte, spielte ich auf der Saz und träumte davon, eines Tages in Aleppo oder Damaskus zu studieren.“

Kulice und Saz Auf der Austauschplattform greift sie den Übersetzer*innen vor und fügt ein Foto einer Saz an die entsprechende Stelle. | Screenshot: © Goethe-Institut Korea So ist sichergestellt, dass Übersetzer das Instrument auch begrifflich eindeutig zuordnen können. Für die Übersetzung bzw. für eine adäquate Bezeichnung von Realien haben Übersetzer*innen verschiedene Möglichkeiten: Sie können das Fremdwort übernehmen, es lexikalisch anpassen, Erläuterungen in Form von Fußnoten, Anmerkungen oder Glossaren anfügen, eine Lehnübersetzung, Lehnübertragung, Lehnschöpfung vornehmen und diese Möglichkeiten kombinieren. Wenn eine Bezeichnung von Realien durch einen Übersetzer fehlerhaft wiedergegeben wird, ist nicht so sehr auf unzulängliche Handhabung dieser Möglichkeiten zurückzuführen, sondern eher auf Unkenntnis der Sachverhalte, also der anderen Kultur.

Der Übersetzer Romit Roy, der den Roman ins Bengali überträgt, hat im Internet recherchiert und Musikvideos gefunden, die er mit den Kolleg*innen teilt und der Autorin teilt. Ronya Othmann bestätigt die Art der Musik, die im jesidischen Dorf von Leylas Familie gespielt wird und ergänzt ein weiteres Video.

Auch Begriffe für Essen und Trinken gehören zu den sogenannten Realien. Im Roman stoßen wir gleich an mehreren Stellen auf eine kurdische Spezialität, unter anderem im folgenden Satz:
„Er sagte seiner Frau, sie solle mir Tee und Kûlîçe bringen, weil er wusste, wie gern ich ihre Kekse aß. Für Kûlîçe war ich immer bereit zu übersetzen, sagte der Vater.“

Aus dem Kontext erklärt sich, dass es sich bei Kûlîçe um eine süße Speise bzw. um ein Gebäck handelt. Auch wenn ein Klick im Internet Abbildungen ergeben, Ronya Othmann liefert zum Begriff gleich ein Rezept mit den nötigen Zutaten und der Zubereitung dazu. An dieser Stelle sei nur so viel verraten, dass es sich um ein süßes Gebäck mit Datteln und Walnüssen handelt.
 

Top