Deutsche Theaterlandschaft
Welterbe und Zankapfel

Welterbe Theater
Welterbe Theater | Foto: Mathias Schlung; © artwork: Gudrun Pawelke

Die Krise des deutschen Stadttheaters beschäftigt das Feuilleton, die Parteien und natürlich die Theater selbst. Aber um was geht es dabei eigentlich – die Krise als Chance?

In Berlin streitet man mit harten Bandagen über die Nachfolge des Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf. Dass ein erfolgreicher Museumsmann und Kulturmanager, Chris Dercon, ihn beerbt, entrüstet große Teile der Belegschaft: Sie befürchten „Konsenskultur“ statt Gesellschaftskritik. Von einem „Theaterstreit“ spricht man in München. Statt Schauspiel, so unken die Kritiker der dort einflussreichen Süddeutschen Zeitung, werde an den traditionsreichen Kammerspielen zu viel Performance-Kunst gezeigt, seit dort Matthias Lilienthal Intendant ist, der einst Chefdramaturg an der Volksbühne war und lange Zeit das Berliner Produktionshaus Hebbel am Ufer leitete. Kulturmanager befürchten für die Zukunft die Schließung eines Drittels der deutschsprachigen Stadttheater oder empfehlen im Interesse der Rettung dieser Institution, die Hälfte der Häuser zu schließen, damit der Rest überleben kann.

Kulturerbe Theaterförderung

In den deutschsprachigen Ländern wird man sich seit einigen Jahren stärker der Tatsache bewusst, dass die Theater- und Orchesterlandschaft nirgendwo so dicht und vielfältig ist und nirgendwo besser subventioniert wird als hier: Ungefähr 35 Millionen Zuschauer betrachten jedes Jahr die 120.000 Theateraufführungen und 9.000 Konzerte im Jahr. Um die 39.000 Beschäftigte zählte man im Jahr 2010 an Bühnen und Orchestern in Deutschland. 35 Prozent der Kulturausgaben, etwa 3,5 Milliarden Euro im Jahr, fließen jährlich in die Theater. Das sind, so der Soziologe Dieter Hasselbach, 43 Euro pro Einwohner im Jahr. Nur konsequent scheint, dass die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft 2014 in die nationale Unesco-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Geht es nach dem Willen der deutschen Unesco-Kommission, so soll sie demnächst auch auf der internationalen Unesco-Liste erscheinen.
 
Der deutsche Sonderweg in Sachen Theaterförderung hat historische Gründe: Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Theater von seinen bürgerlichen Reformern in den Rang eines Organons der Aufklärung erhoben. Neben Gerichten, Parlamenten und Universitäten sah die Aufklärung es als Teil jener bürgerlichen Öffentlichkeit, der es fortan obliegen sollte, aus dem, so der Philosoph Immanuel Kant, „Zeitalter der Aufklärung“ ein wirklich „aufgeklärtes Zeitalter“ zu machen. Zugleich schrieb man dem Theater die Rolle der Nationenbildung zu, die Vorwegnahme der real noch undenkbaren Einheit Deutschlands als Kulturnation und deren Beförderung. Um diesem umfassenden Bildungs- und Formierungswunsch entsprechen zu können, musste allerdings das Theater grundlegend erneuert werden: Verbote des Stegreifspiels, die buchstäbliche Austreibung des anarchischen Harlekins, Reformschriften, die Literarisierung, Modellstücke und Regelwerke für die Schauspieler sollten das Spiel verändern. Architektonische Neuerungen wie die Einführung von Sitzplätzen im zuvor lärmenden und pöbelnden Parterre und Neuerungen auf der Ebene der Technik dienten der Disziplinierung des Publikums. So trat an die Stelle einer fortan als „vormodern“ und „minderwertig“ bezeichneten Theaterpraxis jenes moderne dramatische Theater, das heute vielen als das Sprechtheater schlechthin gilt. Doch vor dem Hintergrund der Aufklärungskritik Michel Foucaults fragt die neuere Theaterwissenschaft, ob das um 1800 etablierte Theatermonopol nicht auch als Teil der damals sich herausbildenden modernen Überwachungs-, Kontroll- und Disziplinargesellschaft zu begreifen ist.

Gegenbewegung und Kürzungen

Während seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zum modernen, „dramatischen“ Theatermodell nicht zuletzt in den großen Häusern ihren Ort fand, wird heute über die Institution des Stadttheaters als Ganzes gestritten: Es geht dabei um die Fragen, wie dort gearbeitet und gezahlt wird, wie die Häuser geleitet werden und was sie letztlich eigentlich leisten sollen. Hintergrund ist auch, dass zwar die Zahl der Inszenierungen an den öffentlich getragenen Häusern seit der Wiedervereinigung um 50 Prozent gestiegen ist, die Zahl der Besucher aber gleich blieb und die der festangestellten Ensemblemitglieder um 50 Prozent reduziert wurde. Trotz nachlassendem Interesse wird also, wie es die Schauspieldramaturgin Marion Tiedtke formulierte, „alles getan, damit das Theater nach außen funktioniert wie eh und je, dabei tut es dies nach innen längst nicht mehr: Die Gagen sind eingefroren, die Ensembles verkleinert und verjüngt, Theaterberufe weggespart, Probenzeiten verkürzt, Angebotsformate vervielfältigt, die Zuschauerklientel geschrumpft, die Spieltage erhöht, die Probenprozesse ineinander verschachtelt, die Kooperationen stetig gewachsen und die Suche nach Drittmitteln selbstverständlich geworden“.
 
Im Netzwerk-Ensemble haben sich Schauspieler zusammengeschlossen. Dieses Netzwerk artikuliert seit einiger Zeit den Unmut der künstlerischen Beschäftigten über diese Veränderungen: Kritisiert wird die (Selbst-)Ausbeutung, die sich in Arbeitszeiten niederschlage, die weit über den tariflich festgelegten 48 Stunden liegen, aber auch eine überholte Leitungsstruktur, in deren Mittelpunkt ein allmächtiger Intendant und nicht minder mächtige Regisseure stehen, daneben die befristeten, an den Intendanten gebundenen Verträge. Es dämmert bei Künstlern wie anderen Beschäftigten der Theater, dass ihre Institution vielleicht längst zu einem Paradebeispiel jener neoliberaler Produktionsweisen geworden ist, die auf der Bühne und in Podien der Theater gerne kritisiert werden.

Internationalität und Diversifikation

Nicht minder heftig wird allerdings um den Kurs der Häuser gestritten: Ist es noch gerechtfertigt, eine einzige Kunstform gegenüber allen anderen derart zu privilegieren? Und müssten in Zeiten der Globalisierung und einer längst durch vielfältige Migrationen veränderten Gesellschaft nicht anderen Akteuren die Bühnen geöffnet werden? – Denn noch immer sind Schauspieler wie Zuschauer mit Migrationshintergrund in den deutschsprachigen Theatern ebenso selten wie internationale Gruppen und Künstler, die nicht eine der deutschsprachigen Theaterausbildungen durchlaufen haben.

Mit ihrem Konzept der Internationalisierung und der Diversifikation der Sparten und Spielweisen nutzen Matthias Lilienthal in München und Chris Dercon in Berlin die Krise als Chance, die Stadttheater zu öffnen: Mit einer Mischung aus Repertoiretheater und Produktionshaus und einem Ensemble, dem neben Schauspielern auch Performance-Künstler angehören, wollen sie der nicht länger legitimierbaren sozialen Hierarchie zwischen festangestellten Schauspielern hier und prekär von Projekt zu Projekt finanzierter Freien Szene dort entgegenarbeiten und dabei gleichzeitig mit neuen Formaten an einer künstlerischen Antwort auf die Krisen des Stadttheaters arbeiten.

Paradox angesichts des erbitterten Berliner Streits ist dabei, dass das Modell für diese Antworten neben Häusern in Frankreich und Belgien nicht zuletzt die Volksbühne unter Frank Castorf ist, deren großer Erfolg in den 1990er-Jahren nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass neben neuen Regiesprachen und Schauspielstilen auf der Bühne in dem traditionsreichen Avantgarde-Haus regelmäßig Konzerte, Lesungen, Publikumsdiskussionen, Filme, Musik- und Tanztheater sowie politische Diskussionen und Podien auf dem Spielplan standen.

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