An welchem Feminismus orientiere ich mich?

Menschen unterschiedlicher Herkunft rufen ihre Wünsche in die Welt.
Frauenbewegungen weltweit rufen nach einer globalen Befreiung. | Illustration: © Goethe-Institut Korea/hyeda

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort Feminismus die Realpolitik und unseren Alltag stark beeinflusst. Auf welchem historischen Kontext basiert unsere Auslegung des Begriffes, und an welchem Feminismus orientieren wir uns? Wir begeben uns auf die Suche inmitten divers gewordener Feminismen mit Fokus auf die deutsche und koreanische Gesellschaft.

Von Young-Rong Choo

Zurzeit hört man Wahlversprechen wie „ich werde ein feministischer Präsident sein“, oder den Glauben „es gäbe keine strukturelle Geschlechterdiskriminierung mehr“ aus den Mündern berühmter Politiker*innen in Südkorea als Antwort auf Geschlechtergleichheit und Feminismus. Ich frage mich jedoch, ob ihr Verständnis von Geschlecht und Feminismus auf dem gleichen Kenntnisstand beruht wie auf meinem. Von antifeministischen Politiker*innen, die den Backlash als politische Strategie nutzen, bis hin zu sogenannten feministischen Politiker*innen, die mit ihrem oberflächlichen Verständnis nur das Problem der Gleichheit binärer Geschlechtsidentitäten entsprechend der Geschlechterdichotomie thematisieren; sie alle haben Missverständnisse über den Begriff Feminismus verschlimmert, der in 200 Jahren moderner Frauenbewegung kultiviert wurde.

Vielfältige AUSLEGUNGEN

Zudem gibt es häufig eine Vielzahl an Unstimmigkeiten der Auslegung des Begriffes Feminismus, sogar unter führenden Aktivist*innen selbst. Besonders ab Mitte der 2000er Jahre, nachdem der Feminismus populär geworden war, tauchte das Phänomen des zum Verkaufsprodukt gewordenen Feminismus auf. Unternehmen nutzten feministische Narrative als Verkaufsstrategie. Der Feminismus verlor dadurch mehr oder weniger seine geschichtliche Bedeutung. Es zeichnete sich die Tendenz ab, dass Feminismus zu einem flüchtigen Modewort degradiert werden würde. Aktuell gehört der sogenannte Netz-Feminismus zur am Stärksten vertretenen Auslegung der Bewegung, der eigene Gefahren birgt. Da er durch das Internet zwar einerseits eine sofort nutzbare weltweite Basis der Solidarität bietet, andererseits aber die Kämpfe Anderer an weit entfernten Orten aus einer liberal westlich-orientierten Sichtweise beurteilt, ohne über ein ausreichendes Verständnis der geopolitischen Lage zu verfügen.

Der anfänglich aus der Notwendigkeit heraus geborene Feminismus dehnt sich heute weiter konzeptionell aus, vor allem durch die Ontologie (Seinslehre) und Epistemologie (Erkenntnistheorie) der verzweifelten Betroffenen. Gleichzeitig durchläuft er als Teil gesellschaftlicher Veränderungen, Höhen und Tiefen. Der moderne abgewandelte Feminismus und seine genauso vielfältigen Bezeichnungen könnten als Prozess und Ergebnis dynamischer Selbstreflexion gesehen werden. Um diese Dynamik zu erkennen, müssen wir einen Moment lang von unseren Social-Media-Konten und uns geläufigen Ausdrücken Abstand nehmen und die geschichtliche Entwicklung des Feminismus mit all seinen Facetten betrachten.

Gleichheits- und Differenzfeminismus

Frauenbewegungen in der westlichen Welt, Deutschland inbegriffen, entwickelten sich aus den beiden etablierten Werten Gleichheit und Differenz. Der Gleichheitsfeminismus konzentrierte sich dabei auf das Einfordern gesellschaftlicher Rechte für Frauen, die bis dato nur Männer innehatten. Dazu gehörten das Anfang des 19. Jahrhunderts geforderte Wahlrecht für Frauen, die Rechte auf Bildung und Erwerbstätigkeit, die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit sowie die aktuell vorherrschenden Themen Gläserne Decke sowie die Frauenquote. Während der ersten Welle der Frauenbewegung in Deutschland suchten bürgerliche Aktivistinnen nach der Befreiung von Frauen, indem sie ihren rechtlichen Status innerhalb der etablierten Gesellschaft zu verbessern suchten. Sozialistische Frauenaktivistinnen hingegen machten es sich zum ultimativen Ziel, sowohl Frauen als auch Männer zu befreien, indem sie versuchten, die bestehende kapitalistische Gesellschaft aufzulösen. Sie waren überzeugt, dass der Kapitalismus seine eigene ausbeuterische Struktur auf die Geschlechterfrage unter Arbeiter*innen verschob. Es wurde bereits zu dieser Zeit deutlich, dass das gleiche Ziel – Frauenbefreiung und Gleichberechtigung – abhängig von unterschiedlichen Lebensrealitäten sowie politischen Ideologien war, und sich aufgrund dessen in unterschiedliche Richtungen aufsplitten würde. Dies war nach der Teilung Deutschlands in Ost und West noch deutlicher zu erkennen.

Gleichheitsfeminismus wird oft dafür kritisiert, dass er nicht nur ein ziemlich vereinfachtes Verständnis von Frauen und Weiblichkeit hat, sondern auch die Normen, auf denen die Logik einer männerzentrierten Gesellschaft beruht, als Standard ansieht. Differenzfeminismus hingegen konzentriert sich auf die unabhängige Konzeptarbeit und den Aufbau neuer Narrative hinsichtlich Weiblichkeit und Andersartigkeit, die in der westlichen Zivilisation lange als zweitrangig oder sogar negativ betrachtet wurden. Während der zweiten Welle des westlichen Feminismus, vertreten durch den berühmten Slogan Das Private ist politisch, wurden linke Frauenaktivistinnen in Westdeutschland von einer sogar innerhalb der linken Szene dominierenden patriarchalen Kultur desillusioniert und entwickelten daher eine autonome Frauenbewegung, die Männer ausschloss. Zur gleichen Zeit wurden Probleme wie häusliche Gewalt oder Vergewaltigung in der Ehe, die bis zu diesem Zeitpunkt als private Angelegenheit angesehen wurden, öffentlich debattiert. Zudem explodierten, beginnend mit dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch, öffentliche Diskurse über Reproduktionsrechte und -arbeit, Machtverhältnisse in der Partnerschaft sowie das Konzept von Geschlecht und Sexualität.

Die Agenden der zweiten Welle, die sich in erster Linie auf Aspekte der Unterdrückung weißer und biologischer Frauen konzentrierten, konnten jedoch die komplizierten Unterdrückungsmechanismen, denen People of Color sowie Frauen aus der sogenannten Dritten Welt ausgeliefert waren, nicht erfassen. Die daraus entstandene Theorie der Intersektionalität machte diese koloniale Rationalität und den Rassismus innerhalb des weißen Feminismus sichtbar und eröffnete später gemeinsam mit dem Queerfeminismus die dritte Welle des westlichen Feminismus. Darüber hinaus war nach der Wiedervereinigung Deutschlands das Zueinanderfinden weißer Frauen aus Ost- und Westdeutschland schwierig. Es entstanden allerdings neue Orte, an denen sich People of Color sowie Frauen mit Migrationshintergrund aus Ost- und Westdeutschland begegnen konnten. Diese thematisierten den Anstieg des weißen Nationalismus und Rassismus in Deutschland und bildeten eigene Netzwerke. In der dritten Welle wurde zwar der revolutionäre Charakter geschwächt, der Wert der Vielfalt aber durch neue Trends wie lose Netzwerke und Identitätspolitik die projektbasiert agierten, gestärkt.

Zwei Frauen, eine aus Deutschland, eine aus Korea, unterhalten sich auf einem Sofa.
Westlicher und koreanischer Feminismus begegnen sich. | Illustration: © Goethe-Institut Korea/hyeda

Koloniale Befreiung und Klassenkampf

In der Moderne hatten die Frauenbewegungen auf der koreanischen Halbinsel ihre Anfänge in einer männerzentrierten Gesellschaft, in der sie ihre Frauenrechte durch Aktivismus zu stärken suchten. Der große Unterschied zu westlichen Frauenbewegungen aber lag in der Identität, die auf den Verhältnissen der Kolonialherrschaft beruhte. Die Akteur*innen der modernen Frauenbewegung dort könnten mit den folgenden Merkmalen identifiziert werden: durch Kolonialherrschaft unterworfen; als Bürger*innen in einem Entwicklungsland lebend, das von der sogenannten Ersten Welt abhängig ist; als People of Color in Asien. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der Struktur und Überschneidung der Unterdrückung gegenüber Frauen, der Arbeiterklasse und des Volkes bewusst zu werden. Beispielsweise gab es die 1927 gegründete aktivistische Gruppe Geun-Woo-Hee. Sozialistische und christliche Frauen dieser Gruppe gingen über ihre Ideologien hinaus und setzten sich gemeinsam für die Befreiung der Frauen sowie des koreanischen Volkes von der japanischen Kolonialisierung ein.

Nach der Befreiung aus japanischer Kolonialherrschaft und der Teilung der koreanischen Halbinsel wurde im Zuge der antikommunistischen geopolitischen Interessen der USA in den 1960er Jahren, eine arbeitsintensive und auf den Export an die USA abzielende, Industrialisierung gefördert. Zu diesem Zwecke mussten zahlreiche junge Arbeiterinnen aus ländlichen Regionen die harten Arbeitsbedingungen in großen städtischen Fabriken ertragen. Die Arbeiterinnen, die zu dieser Zeit gewerkschaftlich aktiv waren, trugen nicht nur zum Klassenkampf, sondern auch zu pro-demokratischen Bewegungen bei. In den 1980er Jahren entwickelte sich die südkoreanische Frauenbewegung proaktiv in eine die Gesellschaft reformierende Bewegung. Gleichzeitig gewann der Fachbereich Frauenstudien weitere Kompetenzen durch Analysen der intersektionalen Mechanismen zwischen globaler Hegemonie und Patriarchat – wie z.B. Militärregime, Klassenkonflikte sowie Trennung der koreanischen Halbinsel – aus weiblicher Perspektive.

Mit Beginn der 1990er Jahre gab es allerdings eine Veränderung dieser Strömung. Frauengruppen, die sich zuvor auf den Kampf von Arbeiterinnen fokussiert hatten, wechselten nun ihre Zielgruppe auf alle biologischen Frauen. Sie begannen außerdem mit Regierungen Partnerschaften zur Politisierung von Frauenthemen einzugehen. Daraufhin wurde auf der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking das weltweite Abkommen über Gender-Mainstreaming erzielt, das in allen politischen Aktivitäten die Geschlechtergleichheit widerspiegeln sollte. Dies gab in Südkorea den Impuls zur Entstehung zahlreicher feministischer NGO und machte im Bereich der Legislative und Exekutive die Probleme der Frauen sichtbar. Des Weiteren wurden viele Änderungen wie die Revision von Familiengesetzen sowie der Ausbau von Zugängen zu Führungspositionen für Frauen erreicht. Auch trat der Young Feminismus aus Student*innen-Kreisen hervor, der die Themen Autoritarismus und sexuelle Gewalt im Alltag thematisierte und feministische Kulturbewegungen außerhalb großer Diskurse anführte.

im Spannungsfeld alter & neuer Gewalt

Feminist*innen weltweit, einschließlich Südkorea und Deutschland, wenn auch in unterschiedlichen Realitäten lebend, entwickelten ihre Ideen und führten ihren Kampf für ähnliche Ziele. Der in den 2000er Jahren entstandene Netz-Feminismus spielte zudem eine entscheidende Rolle dabei, feministische Geschichte und Agenden verschiedener Orte zentralisiert ins Internet zu bringen. Diese Besonderheit des neuen Mediums erforderte einen augenblicklichen und umfangreichen Aktivismus. Insbesondere bemerkenswert war es, wie die neuen Strategien des Netz-Feminismus auf das klassische Thema des Feminismus Genderspezifische Gewalt antworteten. Darunter kann man vor allem das bekannte Beispiel der #metoo-Bewegung zählen. Nach den USA war die Bewegung besonders in Südkorea groß und löste 2016 nach dem Femizid in der Nähe einer U-Bahn-Station in Seoul das Phänomen Feminism Reboot aus.

Das Problem heute ist, dass die absolute Datenmenge zum #Feminismus zwar zunimmt, gleichzeitig aber auch die Gewalt gegenüber Feminismus und die Gewalt im Namen des Feminismus steigt. Die entstandene gewaltsame Sprache wird in Form fragmentierter Daten exzessiv reproduziert und obendrein ergreift sie in der Feminismus-Debatte die Initiative. Zudem werden die unterschiedlichen geschichtlichen Aspekte des Feminismus oft verdreht und einseitig beurteilt, statt sie sorgfältig individuell zu betrachten. Beispielsweise hat die Gewalt gegenüber Feminismus, die seit der Entstehung von Frauenbewegungen, wie ein Schatten koexistiert, nun die neue Bezeichnung Backlash erhalten. Insbesondere das privilegierte eine Prozent der Oberschicht profitiert vom neoliberalen Feminismus und erschafft das Image des Mainstream-Feminismus. Die Mehrheit noch unbefreiter Feministinnen hört jedoch täuschende Aussagen wie „es gäbe keine strukturelle Geschlechterdiskriminierung mehr“ von Seiten auch noch unbefreiter Antifeministinnen.

Die Gewalt im Namen des Feminismus ist im Alltag deutlich sichtbar geworden. In Südkorea gab es sogenannte Feministinnen, die den Feminismus als Werkzeug für Exklusivität ausnutzten. Ein Beispiel hierfür ist der offene Rassismus und Protest gegen die Aufnahme männlicher Geflüchteter aus dem Jemen, die 2018 Asyl beantragen wollten. Ein weiteres Beispiel ist die Hass-Aktion gegenüber einer Transfrau, die 2020 an einer Frauenuniversität angenommen wurde. Auch in Deutschland, dem Einwanderungsland, das nach den USA weltweit die meisten Immigrant*innen aufnimmt, trifft man auf ähnliche strukturelle Gewalt. Beispielsweise wird die genderspezifische Gewalt, die manche Muslim*innen erfahren, von selbst ernannten Feministinnen im Rechtsradikalismus, als Mittel für anti-islamische Hetze missbraucht. 

Feminismus für alle

Es gibt neue Problematiken, die entstehen, und Agenden, die noch ungelöst aus der Vergangenheit stammen. Es gibt sogenannte Feministinnen, die den Feminismus als Mittel der Gewalt fehlinterpretieren und Antifeminist*innen, die keine Befreiung aus der Unterdrückung wollen. Vielleicht erleben wir zurzeit die umfangreichste Version des feministischen Spektrums. Diejenigen, die die interne Gewalt herausfiltern, die externe Gewalt abweisen und sich für Feminismus für alle einsetzen wollen, könnten sich zunächst fragen: Wo ist meine intersektionale Identität positioniert? Wo überschneiden sich die hegemonischen Unterdrückungsmechanismen am meisten und wer ist davon betroffen? Mit wem möchte ich gemeinsam kämpfen? Wie sieht die Welt aus, in der ich leben möchte? Was und wen soll das Adjektiv feministisch repräsentieren? Und an welchem Feminismus orientiere ich mich?

 

Glossar

  • Backlash bezeichnet reaktionäre Bestrebungen gegen fortschrittlich erachtete Entwicklungen und die Rückkehr zu konservativen Wertevorstellungen. Dieser Begriff bezieht sich seit 2015 meistens insbesondere auf Feminismus in Südkorea.
  • Geschlechterdichotomie behauptet, dass es nur zwei Geschlechter gibt, männlich und weiblich. In dieser Ansicht werden die verschiedenen Genderidentitäten nicht anerkannt. Aus dieser Perspektive verwenden konservative politische Gruppen in Südkorea Gleichheit binärer Geschlechtsidentitäten statt Gendergleichheit.
  • Netz-Feminismus ist die kritisch-feministische Perspektive auf netzpolitische Themen, sowie die Einsetzung feministischer Themen von Aktivist*innen online.
  • Identitätspolitik geht von der Identität von Einzelnen und Gruppen aus. Mit ihrer Hilfe wehren und befreien sich diskriminierte Gruppen, etwa Frauen, LGBTQ+, People of Color (PoC) etc. Auch gibt es identitätspolitische Strömungen, in denen die Identitäten der konservativen und exklusiven Gruppierungen im Vordergrund stehen.
  • Feminism Reboot meint den Neustart des Feminismus im Jahr 2015 in Südkorea und die damit einhergehende Bildung neuer feministischer Bewegungen. Dieser Begriff wurde von der südkoreanischen Feministin Hee-jeong Son ins Leben gerufen.

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