Sprechstunde – die Sprachkolumne
Auf die Goldwaage legen

Illustration: Person ruft in ein Mikrofon und hat eine Denkblase am Kopf, die von einem Stern ausgefüllt wird
Übertreibung, Verstehen und Verständigung | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Wenn Hernán D. Caro sich hierzulande mit Freund*innen unterhält, übertreibt er hin und wieder. Sein Gegenüber schaut dann meistens irritiert. Grund genug, über unterschiedliches Kommunikationsverhalten nachzudenken – das mancherorts gerne doppeldeutig ausfällt.

Von Hernán D. Caro

Dies passiert sehr oft in meinem Leben: Ich erzähle einer Freundin oder einem Freund in Deutschland irgendetwas – und, weil ich nicht weiß, wie man sonst irgendetwas erzählen soll, übertreibe ich dabei ein bisschen. Etwa so: „Das Konzert war unglaublich voll“, berichte ich, „es waren mindestens dreihundert Leute da!“ Mein Gesprächspartner erwidert skeptisch: „Das kann nicht sein, in den Saal passen höchstens achtzig Leute rein.“ Oder ich sage: „Einen so heißen Sommer, wie den in Rom letztes Jahr habe ich noch nie erlebt. Ich schwöre, an einem Tag hatten wir 60 Grad – im Schatten!“ „60 Grad? Das bezweifle ich, in Rom gibt’s selbst an den heißesten Tagen nicht mehr als 45 Grad!“, kontert mein Gegenüber sachlich. Und ich antworte (nachdem ich für mich gedacht habe: „Mein Gott, das weiß ich doch!): „Mensch, ich habe natürlich übertrieben“ – was dann oft der Grund für verwirrte oder irritierte Blicke ist.

Verstehen – Verständigen

Was ist da los? Zunächst: In vielen meiner Unterhaltungen scheint es mir nicht von außerordentlicher Relevanz zu sein, immer beim Wort genommen zu werden. Stattdessen empfinde ich bei der besonderen Verbindung zwischen Menschen, die die sprachliche Kommunikation ist, die Übertreibung, das ironisch oder einfach anders Gemeinte nicht als Störelement, sondern im Gegenteil als Chance oder Zeichen der Nähe. Als würde für mich der Wert des gegenseitigen Verstehens unter anderem darin liegen, dass man – idealerweise! – kapiert oder im Voraus weiß, dass ich manche Dinge überspitzt sage. Dagegen scheint für viele meiner deutschen Freund*innen Kommunikation primär eine Sache der Eindeutigkeit zu sein. Einander Verstehen ist da vor allem Sich-Verständigen und damit eine Art implizite Abmachung, dass man Dinge so unzweideutig wie möglich äußert, damit eben keine Missverständnisse entstehen. Ein guter Freund aus München, mit dem ich einmal über dieses Thema gesprochen habe – und dem ich schon mehrmals erklären musste, ich hätte gerade übertrieben –, stellte die nachvollziehbare Frage: „Aber warum, wenn man jemandem etwas mitteilen will, sollte man die Dinge anders sagen, als sie sind?“ Ich wiederum frage mich: „Warum nicht?“
 
Viele Bekannte, die, wie ich, aus anderen Ländern kommen oder den Einfluss anderer Sprachen außer der deutschen früh erlebt haben, erzählen von ähnlichen Erfahrungen. Es ist also zu vermuten, dass wir es hier mit einem weit verbreiteten, sozusagen sozialsprachlichen Phänomen zu tun haben. Wie kann man dieses erklären?

Sprachen schaffen Menschen

Keine Ahnung! Beziehungsweise: Da wir letzten Endes mit unzähligen Sprecher*innen und ihren individuellen Kommunikationsverhalten zu tun haben, ist jede Erklärung dürftig, denn sie muss ja auf einer Verallgemeinerung basieren – also einer Übertreibung. Aber weil es hinter manchen Übertreibungen eine Wahrheit gibt (zumindest eine halbe), kann man dennoch ein paar Spekulationen anstellen.
 
Der Bischof Isidor von Sevilla schrieb im 6. Jahrhundert: „Ex linguis gentes, non ex gentibus linguae exortae sunt“ – etwa: „Die Völker entstanden aus den Sprachen, nicht die Sprachen aus den Völkern.“ Da stellt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt einheitliche „Völker“ gibt oder das nicht schon eine etwas billige Verallgemeinerung ist. Aber abgesehen davon: Wenn Sprachen Menschen schaffen, wenn wir sozusagen im Dienst unserer Sprache stehen und nicht umgekehrt, könnte es tatsächlich sein, dass, weil die deutsche Sprache eine gewisse Konkretheit und Genauigkeit erlaubt (meine erste Kolumne „Die Belebung der Realität“ bringt einige Beispiele), sie diese auch von ihren Sprecher*innen verlangt? Nach dem Motto: Wenn man es eindeutig sagen kann, muss man es auch!

Doppeldeutig

Oder ist es andersherum? Nämlich so, dass in Ländern oder Sprachräumen, in denen es aus historischen oder politischen Gründen wichtig oder lebenswichtig war, klarzustellen, was man denkt oder wofür man steht, wie in Deutschland, ebendiese Forderung nach Deutlichkeit bis heute die Art der Kommunikation prägt. Und in Orten, in denen aus ebenso komplexen Gründen nicht Exaktheit, sondern eine „schlaue Art“, Dinge so zu formulieren, dass sie auch anders verstanden werden könnten, gefragt ist, eher Doppeldeutigkeit, ein gewisser Witz oder Verspieltheit in der Sprache zum Vorschein kommen.
 
Wer weiß? Die Wahrheit liegt sicher irgendwo dazwischen – in dem Bereich der Ideen nämlich, wo man, gemäß einer deutschen Redewendung, „nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen“ sollte. Eine Redewendung im Übrigen, deren Existenz selbstverständlich ein vollkommen unwiderlegbarer, endgültiger, deutlicher Beweis dafür ist, dass man genau jenes oft gerne tut.
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle vier Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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