Jüdisches Gaon-von-Vilnius-Museum
Die Erinnerung an das Verlorene bewahren

„Zentrum für Toleranz“ – so bezeichnet sich heute der umfangreichste Teil des Staatlichen Jüdischen Gaon-von-Vilnius-Museums. Sein Auftrag geht über die Bewahrung und Präsentation der Kunst, Kultur und Geschichte des litauischen Judentums hinaus: Die Konfrontation mit der einst reichen und produktiven Kultur zwingt subtil, aber unweigerlich zum Nachdenken über die Umstände seiner umfassenden Zerstörung.
Zu den typischen Merkmalen des historischen Litauens gehörte seine relative Toleranz in religiösen Angelegenheiten, die schon im Mittelalter die Ansiedlung verschiedener Religionsgruppen begünstigte und die unter anderem dem Judentum eine blühende Existenz erlaubte. Sein Einfluss war enorm; spätestens ab dem 18. Jahrhundert zählte man Vilnius zu den bedeutendsten politischen, kulturellen und religiösen Zentren der jüdischen Welt. Die Stadt mit ihren über 100 Synagogen und zehn Yeshivas (Hochschulen für das Studium des Talmud) wurde „Jerusalem Litauens“ oder „Jerusalem des Nordens“ genannt.
„Die Geschichte der Religion stellt nur eine der Perspektiven dar“, erklärt Markas Zingeris, Direktor des Museums, denn die jüdische Geschichte in Litauen ist auch eine sechs Jahrhunderte alte kulturelle und künstlerische Geschichte. Die Namensgebung des Museums verweist gleichwohl auf die enge Verknüpfung dieser Aspekte: Der Gaon von Vilnius (1720-1797) galt schon zu seiner Zeit nicht nur als genialer Erforscher und Exeget der jüdischen Schriften; er nahm auch bewusst Einflüsse der nicht-religiösen Wissenschaften auf.
Mehr als nur eine Geschichte des Holocausts
Die Darstellung des jüdischen Lebens der Vor- und Zwischenkriegszeit erachtet das Zentrum für Toleranz, einer von vier permanenten Ausstellungsorten des Museums, als besonders wichtig. Bereits 1913 wurde ein erstes jüdisches Kulturmuseum gegründet, dessen Fundus bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf etwa 3000 Kunstobjekte und 6000 Bücher angewachsen war. Auch wenn das Jüdische Museum neben dem Zentrum für Toleranz auch eine Ausstellung zur Geschichte des Holocausts in Litauen unterhält, wird eine Engführung auf das Thema vermieden. „Der Holocaust lässt sich nicht nur in Zahlen von unschuldigen Opfern erklären. Deswegen zeigen wir das jüdische Leben vor dem Krieg – so spürt man den Verlust und stellt sich die Frage: Wie konnte es zu diesem plötzlichen Ende kommen?“, erläutert Zingeris das grundlegende Konzept.Ohne Zweifel war der Zweite Weltkrieg die verhängnisvollste Zeit für die jüdische Kultur und das jüdische Leben überhaupt. Schon die erste sowjetische Besetzung 1940 brachte erhebliche Restriktionen und Versuche der politischen Domestizierung mit sich. Die Situation verschlimmerte sich allerdings mit dem Einmarsch der Deutschen. Im September 1941 begannen Mitarbeiter des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg – einer NS-Rauborganisation –, die bestehenden Museen zu plündern und Kunstschätze nach Deutschland abzutransportieren. Unter Lebensgefahr gelang es einigen Juden, zumindest einige Gegenstände im Ghetto von Vilnius zu verstecken.
Nachdem die Sowjetunion 1944 Litauen zurückerobert und wiederum besetzt hatte, bestand ein jüdisches Museum nur für wenige Jahre. Anfangs in der Wohnung des Museumsdirektors untergebracht, wurde es zum geistigen Zentrum der kleinen Gemeinde der Überlebenden. Nach der Westorientierung des neu gegründeten Staates Israel fürchtete Stalin eine Subversion durch die ca. 2 Millionen Juden in der Sowjetunion, so dass es zu einer Entfernung des jüdischen Lebens von der öffentlichen Bildfläche kam. Auch das Museum in Vilnius wurde 1949 geschlossen, und selbst an den Orten der Verbrechen des Holocausts gab es nur vage Bezüge zu den jüdischen Opfern. Dies galt sogar für Orte wie den Wald von Paneriai, wo etwa 70.000 Juden erschossen worden waren; nach dem Massaker von Babi Yar das zweitschwerste Nazi-Verbrechen in Osteuropa. Erst 1989 durfte im Zuge der Perestroika das jüdische Museum neugegründet werden.
Herausfordernde Spurensuche nach dem Verlorenen
Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen, doch die Spurensuche nach dem untergegangenen jüdischen Leben vor dem Holocaust und seinen Artefakten bleibt eine andauernde Herausforderung. „Unerwartet tauchen immer wieder Objekte auf – vor allem bei internationalen Auktionen“, so beschreibt Markas Zingeris die fast detektivische Arbeit. Ebenso bleibt das Eintreten für mehr Toleranz eine feste Konstante in der Tätigkeit des Museums. Auch hier ist die Perspektive weiter gefasst, als man vielleicht von einem jüdischen Museum zunächst annehmen könnte. „Wir haben Probleme der Intoleranz, die noch von früher übernommen werden: Anti-semitische Stereotype, aber auch eine schlechte Behandlung der Sinti und Roma, der Homosexuellen – all dies sind Fragen, die im Rahmen der Frage nach Toleranz diskutiert werden sollten“, erläutert Zingeris. Konkret geschieht das durch zahlreiche Veröffentlichungen, Veranstaltungen und die Arbeit mit Grundschulklassen.Trotz der bereits umfangreichen Arbeit gehen dem jüdischen Museum die Ideen und Vorhaben für die Zukunft nicht aus. Das nächste Großprojekt – die Errichtung eines Zentrums für Kultur und Kunst der Litwaks, der litauischen Juden – wird bereits vorbereitet. „Hier muss etwas von einer europäischen Größenordnung entstehen“, beschreibt Zingeris das Ziel, das erste Litwak-Museum weltweit einzurichten. Wie das Zentrum für Toleranz soll auch dieser Teil des Museums ein weiterer Baustein der Erinnerung sein – Erinnerung an das Verlorene und Mahnung, solche Verbrechen nie wieder zuzulassen.