Familiensoziologie
„Wo Kinder sind, ist Familie“
Wie hat sich die Rolle der Familie angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen 20 Jahre in Ost und West verändert? Goethe.de sprach darüber mit Dr. Jürgen Dorbritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Herr Dr. Dorbritz, wie geht es der Familie?
Wie dem sozialen System, sie passt sich den gewandelten sozialen Beziehungen nahtlos an. Wer von der klassischen Vater-Mutter-zwei Kinder-Familie ausgeht, dem wird das natürlich nicht gefallen, was sich an Pluralität der Lebensformen entwickelt hat. Immerhin sind aber bei den Paaren, die zwischen 35 und 40 Jahre alt sind, die meisten immer noch verheiratet und haben Kinder. Die Ehe spielt allerdings nicht mehr eine so große Rolle wie früher. Ob sie nun verheiratet sind, nicht-ehelich zusammenleben, getrennt oder wie auch immer – hier leben Erwachsene und Kinder zusammen und das ist heute „Familie“.
Was verstehen junge Leute heute unter Familie?
Da herrscht immer noch eine idealtypische Vorstellung von der eigenen Zukunft mit Heirat und Familienglück, trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen. Das sehen Sie daran, dass für viele junge Leute die Hochzeit heute ein riesiges Event ist, das übermäßig gefeiert wird. Doch gegenüber anderen ist man tolerant: Kinder ohne feste Partnerschaft, unverheiratetes Zusammenleben mit Kindern – das stört niemanden. Wer spricht heute noch davon, dass ein Kind „unehelich“ ist? Fragt man die unter 25-Jährigen, ob Kinder und Heirat zusammengehören, antwortet nur ein Drittel mit Ja. Aber die Aussage, die Ehe sei eine überholte Einrichtung, wird von den meisten abgelehnt.
Verliebt, verlobt, verheiratet?
Also groß heiraten, aber Kinder später oder gar nicht?Was wir beobachten, ist, dass sich ein gewisser Automatismus, wie er in den 1960er-Jahren noch fest verankert war, vollständig aufgelöst hat. Man verliebt sich, feiert Verlobung, heiratet, setzt Kinder in die Welt und erzieht sie partnerschaftlich – diese Reihenfolge ist verschwunden.
Kann man in den europäischen Ländern Unterschiede ausmachen zwischen Staaten, in den die Religion noch eine größere Rolle spielt als in anderen?
Ja. In Polen, Spanien oder Italien herrscht ein anderes Familienbild als zum Beispiel in den skandinavischen Staaten. In Schweden wird jeder ohne Ansehen der Familienverhältnisse besteuert, es gibt keine Förderung für Familien, ganz zu schweigen von so etwas wie dem deutschen Ehegattensplitting, das Paare steuerlich bevorzugt. Die Scheidungsrate ist in den katholischen Ländern geringer, Ehen sind seltener kinderlos und Alleinerziehende haben es schwerer.
Ein sozialistisches Familienbild gab es eigentlich nie
Wie sieht es in den postsozialistischen Staaten aus – Tschechien, Litauen, Slowakei, Polen?Dr. Jürgen Dorbritz | Foto: privat Zunächst ist festzuhalten, dass es ein osteuropäisches sozialistisches Familienbild eigentlich nie gab. Überall in diesen Ländern war die Frauenerwerbstätigkeit sehr hoch. Das galt als der Weg zur Gleichberechtigung. Entsprechend umfassend wurde das Kinderbetreuungssystem ausgebaut. Nun sind nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme bis zu 50 Prozent der Industriearbeitsplätze weggefallen. Die Folge: Zunächst wurden die Frauen entlassen, ihnen wurde die traditionelle Hausfrauenrolle wieder zugewiesen – und das konnte nicht gut gehen. Noch etwas kam hinzu: In den realsozialistischen Systemen funktionierte Familie wie eine Solidargemeinschaft. Man organisierte gemeinsam, was fehlte: Wenn die Kaufhalle kubanische Orangen hatte, stand einer für alle an, und wenn der Schwager Radkappen für den Trabi besorgen konnte, war die Familie glücklich. Das ist vorbei. In vielen ehemals sozialistischen Ländern leben Familien heute an der Armutsgrenze, weil sie mit nur einem Einkommen nicht mehr über die Runden kommen.
Aber wie denken Jugendliche in diesen Ländern über Familie?
Es gibt eine Umfrage aus dem Jahre 2006, die zeigt, dass der Wunsch nach einer eigenen Familie in Polen wie in Litauen zu den Lebenszielen mit sehr hoher Priorität zählt. Bevorzugt wird das Modell der „vollständigen“ Kleinfamilie mit verheirateten Eltern und Kindern. Aber ähnlich wie ihre westlichen Altersgenossen sind diese Jugendlichen offen und tolerant auch für nichteheliche Lebensformen. Der Unterschied: Sie sehen das als „Probeehe“ an, die vor allem, wenn Kinder da sind, doch in eine Heirat einmünden soll.
Wo Erwachsene ohne Kinder zusammenleben, ist keine Familie
Nichts scheint mehr von Dauer zu sein – Job, Einkommen, sozialer Status. Welche Überlebens-Chance hat die Familie?Für die Soziologie ist das heute nur eine Definitionsfrage: Wo zwei Generationen zusammenleben, ist Familie. Oder wie es die Politik formuliert hat: Familie ist dort, wo Kinder sind. Die Formen des Zusammenlebens wandeln sich ständig, heute leben gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern zusammen, bilokale Paare, die sich auf zwei Haushalte verteilen, Wochenendpaare. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Wo Erwachsene ohne Kinder zusammenleben, ist keine Familie – das sollte auch steuerlich berücksichtigt werden.
Werden wir erleben, dass sich Partner auf Zeit zusammentun?
Das glaube ich nicht. Wer sich für ein gemeinsames Leben entscheidet, hat nicht das Ende im Blick, sondern da spielen immer noch Ideale, die Sehnsucht nach Geborgenheit, Verständnis, Liebe eine entscheidende Rolle. Obwohl ein Drittel der so geschlossenen Partnerschaften mit Scheidung endet – am Anfang wollen alle, dass es möglichst ein Leben lang funktioniert.
Wird es die Vater-Mutter-Kind-Familie in 20 oder 30 Jahren noch geben?
Davon bin ich fest überzeugt. Sie wird in ihrer traditionellen Form nicht mehr prägend für das Zusammenleben sein wie noch in den 1960er- und 1970er-Jahren. Aber sie bleibt eine unter mehreren wählbaren Formen des Zusammenlebens.