Kriegstraumata
Geerbte Erinnerungen

Kindergartenkinder im Jahr 1961
Kindergartenkinder im Jahr 1961 | Foto (Ausschnitt): © Bundesarchiv

Die Spuren des Zweiten Weltkriegs zeigen sich bis heute in vielen Familien, bis in die zweite und dritte Generation hinein. Die Journalistin Sabine Bode führt die Verunsicherung der „Kriegsenkel“ auf unverarbeitete Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern zurück.

Frau Bode, Sie widmen sich in Ihren Büchern der Frage, wie sich die Erfahrungen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf spätere Generationen auswirken. Warum müssen wir uns überhaupt für das Leben der Eltern- und Großelterngeneration interessieren?

Die Ahnen sind wichtig. Sie beeinflussen unser Verhalten, auch wenn wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind. Wenn wir unsere Ahnen kennen und uns mit dem beschäftigen, wer sie waren und was sie erlebt haben, gibt uns das Sicherheit. Das ist in anderen Kulturen sehr viel anerkannter als in Deutschland. Die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs haben in Deutschland oft dazu geführt, dass man sich mit der Vergangenheit und den Traumata, die damals entstanden sind, nicht mehr befassen wollte. Dabei wirken die Erfahrungen vor allem der Kriegskinder bis heute nach.
 
Inwiefern?

Das hat etwas mit den Erlebnissen zu tun, die die Menschen – vor allem die Kinder – im Krieg gemacht haben. Bombenkrieg, Hunger, Vertreibung und Flucht, der Tod eines Angehörigen, Gewalterfahrungen. Momente, in denen man das Gefühl hat, einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Solche Erfahrungen können zu Traumata führen, wenn sie nicht richtig verarbeitet werden. Und das war nach dem Krieg sehr oft der Fall. Man war froh, dass es vorbei war und wollte nach vorne blicken. Die Schule ging wieder los, die Kinder hörten auf zu weinen und die Eltern sagten: „Sei froh, dass Du noch am Leben bist“. Mit dem Erlebten dagegen wollen sie sich nicht auseinandersetzen und so die Traumata aufarbeiten. Unter diesem Versäumnis leiden heute die Kriegsenkel.   
 
Wie definieren Sie die Generation, die Sie „Kriegsenkel“ nennen?

Als Kriegsenkel beschreibe ich all diejenigen, deren Eltern noch zu Kriegszeiten geboren wurden. Das sind zum größten Teil in den 1960er- und 1970er-Jahren Geborene. Das können aber auch Menschen sein, die in den 1950er- oder 1980er-Jahren zur Welt kamen, solange die Eltern zu den Jahrgängen bis 1945 gehören. Oft erinnern sich die Kriegskinder nicht mehr daran, was damals geschah und sind sich daher häufig nicht darüber im Klaren, dass sie möglicherweise traumatisiert sind. Forschungen zufolge hat sich ein Drittel nicht von frühen Schrecken erholt.

Eigene Bedürfnisse zurückstellen

Was bewirken die unverarbeiteten Traumata?

Traumatisierte Menschen können das Gefühl der Hilflosigkeit, das ja Auslöser ihres Traumas ist, nur sehr schwer aushalten. Gleichzeitig gibt es aber kaum etwas Hilfloseres als einen Säugling. Nun wird auch eine traumatisierte Mutter ihr Kind zwar gut versorgen, es füttern, baden und wickeln. Emotional aber entzieht sie sich dem Kontakt mit dem Kind, wenn sie seine Hilflosigkeit spürt. Beim Kind führt das zu Verlustängsten. Das Kind wird also sehr früh alles daran setzen, die Mutter glücklich zu machen, und eigene Bedürfnisse eher hinten anstellen. Dabei dreht sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind auf ungute Weise um. In der Psychologie spricht man von Parentifizierung.
 
Welche Folgen hat das im späteren Leben dieser sogenannten dritten Generation?

Traumatisierte erwachsene Kriegskinder sind meist nicht in der Lage, ihre Kinder wirklich zu trösten. Sie beschwichtigen nur und sagen: „Du musst dich nicht fürchten. Da ist doch gar nichts.“ Aber sie nehmen das Kind nicht in den Arm und halten es so lange, bis es sich beruhigt hat. Das führt bei Kriegsenkeln oft zu einem starken Gefühl der Verunsicherung. Auch fühlen sich die Kriegsenkel oft in einem unguten Maße für die Eltern verantwortlich und werden dementsprechend massiv und bis ins hohe Alter von den Eltern bevormundet.
 
Wie wirken sich Familiengeheimnisse auf die Beziehungen der Familienmitglieder aus? Und welche Rolle spielen sie für Traumata?

Sie können ebenfalls zu einer tiefen Verunsicherung und zu einem Mangel an Vertrauen in die Zukunft führen. Sie entstehen eher durch etwas, das man „schuldhafte Verstrickung“ nennt. Wenn also zum Beispiel der Großvater in der nationalsozialistischen SS war, oder wenn jemand einem anderen Menschen Gewalt oder Unrecht angetan hat, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Später spricht man dann nicht über das Erlebte – entweder weil man keine Worte findet, um das Grauen zu beschreiben, oder weil sich niemand mehr daran erinnern will. Die Erinnerungen werden also – anders als das in einer Familie sein sollte – nicht mehr weitergetragen und man verliert den Kontakt zu den Ahnen. Das macht unsicher.

Kinder spüren Unstimmigkeiten

In Ihren Büchern haben Sie herausgearbeitet, dass sich diese Geheimnisse stark auf die nachfolgenden Generationen auswirken.

Kinder spüren sehr genau, was vor sich geht und ob es irgendwo Unstimmigkeiten gibt. Gleichzeitig sind sie leicht lenkbar. Wenn man ihnen also sagt: „Was du dir wieder einbildest. Da ist doch gar nichts. Frag nicht danach. Was bist du komisch“, dann werden sie sich daran halten. Kinder wollen nicht komisch sein, sie wollen dazugehören. Also lernen sie, haarscharf an den Tatsachen vorbeizugucken und fangen an zu glauben, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen können. Das kann später zu mangelnder Menschenkenntnis führen. In Fluchtfamilien kommt oft auch ein starkes Misstrauen gegenüber allem Fremden dazu.