Holocaust
Endstation Riga: Deutsche Juden im nationalsozialistisch besetzten Lettland

Am 27. November 1941 verließ der erste Zug mit zu deportierenden Juden Berlin in Richtung Riga. Bis Oktober 1942 war Riga das Ziel von mehr als 20 Transporten deutscher und österreichischer Juden. Von den 25.000 hierher gebrachten Menschen erwies sich für den größten Teil Riga als letzte Station – nur etwa tausend der nach hier Deportierten überlebten den Holocaust.
Von Dr.hist. Kaspars Zellis
Mit dem Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR wurde auch die Judenvernichtung in den von Deutschland besetzten Gebieten zielgerichtet und systematisch. Schon im Sommer 1941, als Teile der deutschen Armee in Lettland einmarschierten, folgten diesen auch Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die die Judenvernichtung in der lettischen Provinz leiteten. Unter Einsatz sowohl der eigenen Kräfte als auch örtlicher Einheiten von Kollaborateuren wurden im besetzten Lettland bis Oktober etwa 30.000 lettische Juden ermordet, die Überlebenden wurden im Ghetto konzentriert. Das größte davon – das Ghetto Riga – wurde am 25. Oktober 1941 vollständig von der übrigen Stadt abgetrennt, und darin wurden 29.500 lettische Juden interniert. Dabei war vorgesehen, die im Ghetto Eingesperrten als Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich auszubeuten.
Deutschland beginnt die Deportation von Juden in den Osten
Doch schon sehr bald änderten sich die Pläne, bedingt durch die im September begonnenen Deportationen von Juden aus Deutschland nach Osten. Die ersten Transporte jüdischer Gefangener fuhren zum Ghetto Litzmannstadt im besetzten Polen, aber dieses war sehr schnell überfüllt und konnte keine Deportierten mehr aufnehmen, weshalb die Transporte schon Mitte Oktober auch zu den Ghettos in Minsk und Kaunas fuhren. Anfang Dezember sollte auch Riga zum Zielort der Deportationen werden. Unter diesen Umständen wurde beschlossen, auch die Bewohner des Ghetto Riga zu beseitigen. Die SS- und Polizeiführung in Ostland wurde ersetzt und Friedrich Jeckeln, der zwei große Judenvernichtungen in der Ukraine – in Kamenez-Podolsk und Babyn Jar – organisiert hatte, zum neuen Befehlshaber ernannt.In zwei Vernichtungsaktionen am 30. November und 8. Dezember 1941 wurden 25.000 Inhaftierte des Ghetto Riga in den Wald von Rumbula getrieben und ermordet. Zu den ersten Opfern der „Aktion“ in Rumbula wurden etwa 1.000 Juden aus Berlin, die mit einem Transportzug am Morgen des 30. November den Bahnhof Šķirotava erreicht hatten. Sie wurden als erste erschossen, während die Kolonnen der zum Tode bestimmten Menschen aus dem Ghetto Riga erst auf dem Weg nach Rumbula waren.

Die Konzentrationslager Jungfernhof und Salaspils
Anfang Dezember erreichten Riga weitere Transportzüge mit deportierten Juden aus Nürnberg, Stuttgart, Hamburg und Wien. Fast 4.000 Personen wurden im behelfsmäßigen Arbeitslager Jungfernhof in der Nähe des Bahnhofs Šķirotava untergebracht. Der alte Gutshof diente als Basis für das neu gegründete Lager, wo die ankommenden Juden in den Ställen und Scheunen des Guts untergebracht wurden. Das Lager wurde sehr kurzfristig eingerichtet und war für die Aufnahme von Menschen ungeeignet. Im Winter 1941/1942 starben im Lager etwa 900 Inhaftierte aufgrund von Kälte, Hunger und der grausamen Behandlung durch die Aufseher. Im März 1942 wurden 1.840 Gefangene, die für arbeitsunfähig erklärt worden waren, aus dem Lager in den Wald von Biķernieki gebracht und dort erschossen, ein Teil wurde in das Ghetto Riga überführt. Von allen Gefangenen im Lager erlebten nur 148 Menschen das Kriegsende.Von den aus Deutschland Deportierten sowie den in Jungfernhof und dem Ghetto Riga Eingesperrten wurden die stärksten Männer für Zwangsarbeit im Arbeitserziehungslager Salaspils (Kurtenhof) ausgewählt, das zu dieser Zeit erbaut wurde. Im Winter und Frühling 1941/1942 beteiligten sich etwa 1.500 bis 1.800 Deportierte am Bau des Lagers. Während des Baus starben nach ungefähren Berichten etwa 1.000 Juden.
Spaltung von lettischen und deutschen Juden
Erst der sechste Transport deportierter Juden aus Köln, der am 10. Dezember 1941 in Riga eintraf, wurde im Ghetto Riga einquartiert. Das Ghetto wurde in zwei Teile aufgeteilt: einen lettischen Teil, in dem etwa 4.500 arbeitsfähige Juden blieben, die nicht bei der „Aktion“ in Rumbula erschossen worden waren, und das „Reichsjudenghetto“, in dem die aus Deutschland angekommenen Menschen untergebracht wurden. Seit der blutigen Aktion am 8. Dezember waren nur zwei Tage vergangen und die eingetroffenen Juden mussten in demolierte Räume einziehen, in denen sich noch die Habseligkeiten der ermordeten vorigen Bewohner befanden. Das Verhältnis zwischen den Gefangenen in den beiden Ghettos war nicht gut. Die Bewohner des lettischen Teils sahen in den deportierten Juden häufig die Schuldigen, deren Ankunft ihre Eltern, Frauen und Kinder das Leben gekostet hatte. Außerdem, wie der im Ghetto Riga inhaftierte und spätere New Yorker Künstler Boris Lurie in seinen Erinnerungen schrieb, „waren sie im Prinzip ebenso auch Deutsche. Deutsche waren für uns ganz einfach Feinde.“
Besonders die Ende Oktober 1942 von den Nationalsozialisten aufgespürte Widerstandsgruppe im „kleinen Ghetto“, die von der Polizei des lettischen Judenghettos organisiert wurde, zerstörte das Verhältnis zwischen den einheimischen und deutschen Ghettobewohnern. 40 jüdische Polizisten wurden von den Nationalsozialisten festgenommen und erschossen; später weitere 100 Juden als Strafe für Unruhen während der Exekution. Die lettischen Juden gaben den „Reichsjuden“ die Schuld an der Aufdeckung der Widerstandsgruppe. Es herrschte die Ansicht, dass ein Polizist die Pläne der Widerständler von einer Geliebten aus dem deutschen Judenghetto erfahren hatte. In Wirklichkeit verriet einer der geflohenen russischen Kriegsgefangenen, mit denen die Juden in Kontakt standen, die Widerstandsgruppe. Doch dies war damals nicht bekannt – der Verdacht an den deutschen Juden hatte Bestand und fand sich später auch in Erzählungen Überlebender wieder.
Sowohl die einheimischen als auch die deportierten Juden wurden von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiter in verschiedenen Bereichen ausgebeutet. Am 15. März 1942 realisierten die Nationalsozialisten die sogenannte Aktion Dünamünde, um sich von den arbeitsunfähigen Gefangenen zu befreien. Dabei wurden ältere Juden für eine leichtere Arbeit in einer Konservenfabrik in Dünamünde (Daugavgrīva) auf einer Liste erfasst. Die Personen auf der Liste wurden aber nicht nach Dünamünde, sondern in den Wald von Biķernieki gebracht und dort erschossen. Das „deutsche Ghetto“ Riga verlor so um 1.900 Gefangene.
Die letzten Transporte aus Berlin erreichten Riga Ende Oktober 1942, die meisten der Deportierten, mit Ausnahme einiger Dutzend arbeitsfähiger Männer, wurden direkt nach ihrer Ankunft getötet.
Der Bau des Konzentrationslagers Kaiserwald
Im März 1943 begann in Riga der Bau des Konzentrationslagers Kaiserwald, das zum Zentrum der jüdischen Gefangenen werden sollte. Das Lager wurde bereits ab Juli 1943 genutzt, als die ersten Internierten aus dem Ghetto Riga dorthin gebracht wurden. Auf sie folgten die noch am Leben gebliebenen Juden aus den geschlossenen Ghettos in Liepāja und Daugavpils. Mehr als 2.000 alte und kranke Inhaftierte sowie Kinder aus dem Ghetto Riga wurden am 2. November 1943 nach Auschwitz gebracht, die übrigen nach Kaiserwald oder eines seiner vielen Außenlager. Auch Juden aus Litauen, Ungarn, Tschechien und anderen von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten wurden im Lager Kaiserwald interniert, wobei die Trennung von einheimischen und „Reichsjuden“ aufgehoben wurde.Die Bedingungen im Konzentrationslager waren erheblich schlechter als im Ghetto: schwerere Arbeit, noch eingeschränktere Möglichkeiten, aus der Außenwelt Lebensmittel zu erhalten, Trennung von Frauen und Männern sowie regelmäßige Selektierungen, nach denen die Schwächsten umgebracht wurden. Je näher die Frontlinie kam, desto häufiger gab es Selektierungen. Im April 1944 wurden bei der sogenannten „Kinderaktion“ die noch lebenden Kinder aus dem Konzentrationslager Kaiserwald fortgebracht und ermordet, im Juli 200 weitere alte und geschwächte Häftlinge.
Gedenkkerzen am Freiheitsdenkmal
Trotz der schrecklichen Umstände im Ghetto sowie in den Lagern im besetzten Lettland waren diese doch noch besser als in manch anderen Lagern auf nationalsozialistisch besetztem Gebiet. Als im August und September 1944 die „Reichsjuden“ in andere Lager gebracht wurden, war etwa ein Drittel von ihnen noch am Leben. Die „Evakuierungen“ in die Konzentrationslager Stutthof, Neuengamme und andere, die Verringerung der schon so kleinen Lebensmittelrationen und die Todesmärsche kosteten auch jene das Leben, die bis dahin überlebt hatten. Insgesamt überlebten von allen aus Deutschland deportierten Juden nur 1.073 Menschen.Das Schicksal der im Krieg aus Deutschland deportierten jüdischen Menschen ist im heutigen Lettland eng mit der Geschichte und dem Verständnis des Holocaust in der Gesellschaft verbunden. Es ist nicht nur ein Bestandteil der deutschen oder lettischen Erinnerungskultur, sondern ein Teil der gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, in der Antworten gesucht werden müssen, damit in der Zukunft kein Platz für solche Tragödien bleibt. Beim Gedenken an die am 30. November in Rumbula Ermordeten erinnern wir uns zudem, dass die lettischen Juden das Massengrab der Nationalsozialisten mit deutschen Juden teilten. Auch zu ihrem Gedenken brennen schon mehrere Jahre Kerzen am Freiheitsdenkmal.