Zeitzeugen
Ameisenhaufen der Erinnerungen

Raum in der Žanis-Lipke-Gedenkstätte
Raum in der Žanis-Lipke-Gedenkstätte | © Žanis-Lipke-Gedenkstätte

Dies ist ein historischer Moment in Lettland, denn wir stehen an einer Schwelle, hinter der neue Erinnerungen von Augenzeugen, zumindest über die Zeit des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr niedergeschrieben werden. Der Dachboden der Eltern und tiefe Schubladen sind möglicherweise Orte für die Archäologie dieser Zeugnisse, doch die Wahrscheinlichkeit dafür schwindet mit jedem Jahr.
 

In Momenten des Gedenkens gibt es immer eine Schweigeminute. So können wir die Opfer ehren und ihr Erlebtes in der Verbannung, Erniedrigung und Hilflosigkeit vor dem Tod im Angesicht des Bösen. Doch das mächtigste Zeugnis von Verlust und Tragödie sind nicht Schweigemomente, sondern die Erinnerungen der Teilhabenden. Jedoch kann man die Überlebenden nicht zwingen, das Erlebte zu dokumentieren, und die Mehrzahl entscheidet sich, zu schweigen und vergessen. Umso wertvoller sind deshalb Erinnerungsbücher, Audio- und Videointerviews, in denen sich uns die von den Historikern erforschte, aber nicht erlebte Alltagswelt eröffnet, die größtenteils vernichtet oder längst vergessen ist.

Eisenbahnschienen und Waggons

Kann man über den Holocaust und Deportationen berichten, ohne Eisenbahnschienen und Waggons zu nennen? Wie sehen authentische Erinnerungen aus, die der nächsten Generation verständlich sind? Lebensgeschichten führen uns in die Realität von Mitmenschen, die einen anderen sozialen Status oder Ausgrenzung erlebt haben, obwohl uns, außer in Fällen von Tagebüchern, die während des Krieges entstanden, nur das Erlebte der Überlebenden zugänglich ist und auch nur das, was die Autoren teilen wollten.
Museen und Gedenkstätten produzieren heute häufig verschiedene kurze Videofilme, die in wenigen Minuten eine dramatische Lebensgeschichte erzählen. Es ist fast unmöglich, die Aufmerksamkeit der heutigen Medienwelt länger aufrecht zu erhalten, selbst in Kino-Dokumentarfilmen werden Animationen und Schauspielerinszenierungen verwendet, weil die schwarzweißen Fotos ermüdend sind.
Forschern sind in den lettischen Museen hunderte Audio- und Videoaufnahmen zugänglich; das Museum der Okkupation Lettlands, das Kriegsmuseum und die Archive des Museums „Juden in Lettland“ bewahren mündliche und schriftliche Zeugnisse auf, eine Forschergruppe des Instituts für Philosophie und Soziologie der Universität Lettlands (LU) hat über 4000 solcher Lebensgeschichten gesammelt und auch Lebensgeschichten lettischer Minderheiten, z.B. von Russen und Roma, herausgegeben. Ein Teil davon ist digital zugänglich, doch in der Gesellschaft muss es ein Interesse geben, diese zu entwirren oder in eine visuell mitreißende Sprache zu übersetzen.

Zwei Seiten

Von großer Bedeutung in den lettischen Erinnerungsaufzeichnungen sind die Erinnerungen der SS-Legionäre, denn während der sowjetischen Besetzung war es verboten, darüber zu sprechen. In dem Buch „(Zwei) Seiten. Lettische Kriegserzählungen.“ sind sechs Tagebücher veröffentlicht – die Erzählungen handeln von unseren Vätern und Großvätern, die das kommunistische und nationalsozialistische Regime einander gegenübergestellt hat und denen ihr Land genommen wurde. Wenn die Generation der Großväter von uns geht, so sind nun wenigstens Interviews mit Soldaten der lettischen SS-Freiwilligenlegion zugänglich, die zum Teil erstmals öffentlich erzählen, dass sie gezwungenermaßen in den Dienst traten oder in der Hoffnung, für Lettlands Unabhängigkeit zu kämpfen, in den Krieg zogen. Der größte Teil wurde später unterdrückt. Den Platz genau dieser Menschen im Kontext europäischer Erinnerungen weiterzugeben ist am schwierigsten, denn SS-Legionäre haben für das Dritte Reich gekämpft – nur langsam bildet sich das Bewusstsein für Deserteure, für Soldaten der Besatzungsmächte als Kriegsopfer.
 


Im virtuellen Museum „Esi pats“ kann man sich in fünf Sprachen mit den Erzählungen der Vertriebenen vertraut machen – dies ist auch eine visuelle Erfahrung und eines der am besten gelungenen Projekte, um sich die Erinnerungen der Überlebenden der Verbannung anzuhören und anzusehen. Videoerzählungen der Unterdrückten sind auch in der virtuellen Ausstellung des KGB-Gebäudes zu sehen.

Jüdische Lebensgeschichten                                                        

Im Gegensatz zum Großteil Europas gibt es in Lettland nicht viele Lebensgeschichten von hier ansässigen Juden, denn der größte Teil der Gemeinschaft wurde systematisch vernichtet. Somit sind erhaltene Notizen und Briefe aus dieser Zeit selten. Diese werden, wie auch die Lebensgeschichten anderer Einwohner Lettlands, von der Vereinigung der Forscher der mündlichen Geschichte Lettlands „Dzīvesstāsts“ („Lebensgeschichte“) des Instituts für Philosophie und Soziologie der LU gesammelt. Von den wenigen, die überlebt haben, war selten jemand bereit, das aufzuschreiben, was er oder sie sorgfältig zu verdrängen versuchte.
 
Knapp zehn jüdische Memoiren über die Zeit des Holocaust sind in Lettland auf Lettisch zugänglich, sie wurden von sehr unterschiedlichen Zeugen verfasst, von denen nur noch einer am Leben ist: Professor Jekabs Barkans aus Kraslava (1927). Er er musste lange überredet werden, seine Erinnerungen an seine Retter in Weißrussland, das im Krieg Erlebte und die Rückkehr in seine Geburtsstadt, in der nicht ein einziger jüdischer Nachbar mehr übrig war, aufzuschreiben.
 
Die Näherin Frida Mihelsone, die in Rumbula unter einem Schuhhaufen überlebte und sich sowohl bei Adventisten als auch bei Letten und Deutschen versteckte, schrieb auf jiddisch in einem ganz anderen Stil als der sorgfältige Jurist und Sohn eines Schuldirektors Aleksandrs Bergmanis, der fünf Konzentrationslager überlebte. Fridas Zeugnis ist auch die Geschichte einer Frau im Krieg, eine ununterbrochene persönliche Bedrohung. Eines der seltenen Tagebücher ist das der jugendlichen Seina Gramma, der „Anne Frank“ aus Preili, verfasst zwischen dem 26. Juni und dem 9. August 1941, als sie zusammen mit anderen Juden ermordet wird. Es besteht aus kurzen, bruchstückartigen Notizen, die die alltägliche Annäherung an den Tod dokumentieren: „Wir werden verbrannt. Mir egal. Ich will weder leben noch sterben.“

Das Ghetto als Ameisenhaufen

Der Bildhauer Elmars Rivoss hat seine Erinnerungen an die Kriegszeit im Rigaer Ghetto und an sein späteres Versteck bei Baptisten niedergeschrieben. Seine Sprache ist emotional und reich; der Schmerz über den Verlust seiner Frau und seiner beiden Kinder ist ganz frisch als er ihn niederschreibt, damit wir diesen nun, im Buch vereint mit leidenschaftlichen Liebesbriefen und Träumen, lesen können.  Das Ghetto sieht er als Ameisenhaufen, doch er beschreibt aus dem Inneren sehr detailliert den Alltag, die verrückt gewordenen, Selbstmorde und Liebschaften, das Krankenhaus und das Bordell. Die Beschreibung der depressiven Ironie, der Geißelung und der Nähe zu seiner zukünftigen Frau – seiner Retterin – des Künstlers Rivoss beweist einen unglaublich seltenen Mut, den Leser so nah heranzulassen.

Primo Levi sah es nicht als Heldentat an, elf Monate in Auschwitz zu überleben; wie viele andere Überlebende der Konzentrationslager beweinte er diejenigen, die vernichtet wurden – sie seien die Besten gewesen. Uns fällt es schwer, ihm zuzustimmen – die Erzählungen der Überlebenden sind für die Gesellschaft ein wertvolles Zeugnis über die Zeit vor uns, über die Menschen, die mit klarem Verstand, umzingelt von Unmenschlichkeit, nicht verschlungen wurden. Diese Erinnerungen sind für Historiker nicht immer verwendbar, da das Gedächtnis des Menschen das glänzendste und das schmerzhafteste behält; Aleksandrs Bergmanis erinnert sich an das Ghetto und die Lager, hat jedoch den Tag vergessen, an dem seine Mutter erschossen wurde.  Doch wir als Gesellschaft müssen versuchen, diese Lebensgeschichten im Kino, in der Sprache der Kunst und Animationen zum Leben zu erwecken, denn zu vergessen ist am einfachsten – das geschieht automatisch.