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Lettland

Lettische Landschaft in der Kunst
Wald - ein untrennbarer Bestandteil

Fragment aus dem Gemälde von Rūdolfs Pinnis "Der Maler".
Fragment aus dem Gemälde von Rūdolfs Pinnis "Der Maler". | © Lettisches Natonales Kunstmuseum. Foto: Normunds Brasliņš.

Von Edvarda Šmite

Heute ist fast die Hälfte der Fläche Lettlands von Wald bedeckt. Früher waren die Wälder noch größer. Als sich vor Jahrtausenden die alten baltischen Stämme an der Ostsee niederließen, wurden die Wälder zu einem untrennbaren Bestandteil ihres täglichen Lebens und ihrer Kultur. Diese Verbindung wird in der lettischen Mythologie durch die „Mutter des Waldes“ verkörpert, die den Wald und die Waldtiere beschützt und den Wald pflegt, und ihr Name wird in Volksliedern mit Dankbarkeit erwähnt. Häufig werden darin auch der Wald und die Bäume selbst gewürdigt – bezeichnenderweise beziehen sich Eiche und Linde in den Liedern sowohl auf die konkreten Bäume als auch auf die Bilder des stattlichen Sohns und der üppigen Tochter des Volkes.  Diese traditionelle Nähe kommt noch immer in der lettischen Sprache zum Ausdruck, wo es neben der allgemeinen Bezeichnung „Wald“ (mežs) auch Namen für verschiedene Waldarten gibt. Ein Kiefernwald heißt sils, während silava eine Kieferngruppe bezeichnet, die kleiner ist als ein Wald. In einer gārša dominieren Eichen, in einem vēris hingegen Fichten.

Mit besonderer Liebenswürdigkeit sind sowohl in die alten Volkslieder als auch in die lettische Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts die Birke (bērzs) und der Birkenhain (bērzu birzs) eingezogen. Auch in lettischen Nachnamen dominieren vielfältige Baumarten. Am häufigsten sind dies Varianten des Worts für „Eiche“ (ozols) – Ozols und Ozola, Ozoliņš und Ozoliņa („Kleine Eiche“), aber auch Vecozols („Alteiche“), Jaunozols („Jungeiche“), Kalnozols („Bergeiche“), Ozolkalns („Eichenberg“) u. a. – ebenso auch Versionen von deutschen Namen wie Eihe, Eihenbaums, Eihentāls, Eihvalds. Oft sind auch Ableitungen des Worts für „Birke“ (bērzs) zu finden, etwa Bērziņš, Bērziņa („Kleine Birke“) u. a. 

Wie man sieht, waren, sind und bleiben Bäume und Wälder wohl ein wesentlicher Teil unserer Traditionen, unseres Alltags und natürlich auch der lettischen Landschaft. Dies bestätigt auch ein Blick auf die Darstellung der lettischen Landschaft in unserer Kunst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine ausführliche Betrachtung wäre genug für eine eigene umfangreiche Studie, da wir uns Dutzenden von Künstlern zuwenden müssten, die während eines langen, an einschneidenden Veränderungen reichen Zeitraums tätig waren. Daher soll hier auf einige Künstler, Werke und Ereignisse eingegangen werden, die aus Sicht der Autorin besonders bedeutsam sind.
 


Zu der Zeit, als Stavenhagens Alben veröffentlicht wurden, widmeten sich auch die lettischen Berufskünstler Kārlis Hūns (1831–1877) und Jūlijs Feders (1838–1909), die an der St. Petersburger Kunstakademie studiert hatten, der heimischen Landschaft. Hūns hatte Historienmalerei studiert und beschäftigte sich intensiv mit dem häuslichen Genre, wandte sich aber während seiner Studienreisen auch Landschaftsmotiven zu.  So auch im September 1872, als er – mit der für die realistische Kunst jener Zeit typischen Aufmerksamkeit – die durch den Wirbelsturm vom 10. und 22. Mai 1872 verwüsteten Wälder Lettlands beobachtete und zeichnete. Der Künstler sah seine Rolle als Dokumentator von Ereignissen, seine Prioritäten waren Wahrhaftigkeit und Genauigkeit. Mit diesen einzigartigen Verwüstungsszenen steht Hūns in der Geschichte der Darstellungen lettischer Wälder allein da, denn sowohl vor als auch nach ihm bevorzugten Künstler die Schönheit und Mächtigkeit der Wälder, wobei sie dem von der Natur inspirierten Bild oft ihre eigene emotionale Haltung und Wertung hinzufügten.

Dies zeigt sich bereits in Jūlijs Feders‘ frühem Gemälde „Landschaft mit Gewitterwolken“ (1873), in dem Einflüsse der romantischen Tradition deutlich werden. Die abgebrochenen Bäume im Vordergrund des Gemäldes sind vermutlich bei demselben Sturm 1872 gefallen, aber Feders‘ Sichtweise ist eine andere – persönlich und hoffnungsvoll. Der Eindruck der Verwüstung wird durch den grünen Wald im Hintergrund, den Sonnenschimmer auf den hohen Flussufern und den hellen Horizont gemildert: Der Sturm ist schon vorbei und ein neuer Tag kommt.
  Zu einer Art Meilenstein in unserer Berufskunst ist das Jahr 1891 geworden. Die künftigen lettischen Kulturtätigen, die an den St. Petersburger Universitäten Kunst und Musik studieren, haben soeben ihr Ziel formuliert: nicht nur zu professionellen Künstlern zu werden, sondern nach Lettland zurückzukehren und dort zu arbeiten, lettische professionelle Kunst zu schaffen und weiterzuentwickeln sowie ihren Dialog mit dem lettischen Volk zu gestalten. Diese Ideen gingen auch dem bereits ergrauten Feders nahe, der im Sommer 1891 in seinem Heimatland arbeitete. Das Gemälde „Gaujatal“ (1891) ist ein Musterbeispiel für die monumentale Panoramalandschaft, die für das 19. Jahrhundert typisch ist, und das erste Mal, dass eine solche Ansicht Lettland gewidmet wurde. Die gesamte Landschaft ist gegen das Licht gemalt, das helle Lichthöfe um die Baumgruppen im Vordergrund entstehen und so die entfernten Objekte sanft ineinander übergehen lässt und durchscheinende, klare, violettblaue Schatten erzeugt. Die ruhig majestätische und harmonische Landschaft, die ohne den Wald nicht vorstellbar ist, schafft ein erhebend feierliches Bild der heimischen Natur.
  Das Thema Wald wird in den Werken des Grafikers Rihards Zariņš (1869–1939) auf vielfältige Weise behandelt, der zahlreiche Zeichnungen, Radierungen und Aquarelle mit Darstellungen mächtiger Bäume geschaffen hat. Unter dem Eindruck der Ereignisse der Revolution von 1905-1907 begann der Künstler mit der Arbeit an einer Serie von Radierungen: Der Zyklus „Was die lettischen Wälder rauschen“ (Ko Latvijas meži šalc) war der Mythologie, der Folklore und der Frühgeschichte gewidmet und an die romantische Tradition angelehnt.  Leider wurden zwischen 1906 und 1914 nur 6 der geplanten 30 Seiten realisiert. Der Titel und die Ausführung des Zyklus betonen die uralte Verbindung des lettischen Waldes mit den Menschen – dieser ist Zeuge und Beteiligter an ihren Schicksalen. Trotz schmerzhafter Erinnerungen an diejenigen, die in den unruhigen Zeiten verschwunden sind, stellt sich Kurbads, ein Held mit übermenschlichen Kräften aus der lettischen Mythologie, im Wald seiner Heimat dem Kampf gegen den dort lebenden Sumpurnis, ein menschenfressendes Ungeheuer mit Hundekopf, und der Glaube des Autors an den Sieg seines Helden lindert die Bitterkeit der Erinnerungen.

Vilhelms Purvītis (1872–1945) gehörte zu jenen jungen Leuten, die sich in den 1890er Jahren als Teil der erwähnten Studentengruppe in St. Petersburg nicht nur auf ihren persönlichen Weg in der Kunst vorbereiteten, sondern bereits ihre Zukunft in der lettischen beruflichen Kunst vor Augen hatten.  Er erfüllte diesen Plan vollumfänglich. Nachdem er sein Studium der Landschaftsmalerei beim berühmten Archip Kuindschi mit einer Goldmedaille abgeschlossen und auch in Europa Anerkennung gefunden hatte, zog er 1899 nach Riga und verbrachte dort den größten Teil seiner Schaffenszeit. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg unterrichtete Purvītis Malerei an der Kunstschule in Riga. Nach dem Krieg leitete er viele Jahre lang das Meisteratelier für Naturansichten an der Lettischen Kunstakademie, begründete auf diese Weise seine eigene Schule für Landschaftsmalerei und führte mehrere Dutzend junger Künstler in die kreative Arbeit ein.
Die heimatliche Landschaft spielt die Hauptrolle in Purvītis' Gemälden, in denen der Künstler einzelne Bäume – Kiefern und Tannen, Birken und Weiden –, aber auch Wälder und Haine darstellt. Purvītis entwickelte sich durch seine unablässigen Forschungen zu einem großen Naturkenner, was seine Gemälde wiederum ehrlich und persönlich macht. Zeitgenossen bezeugten etwa, dass er sich einen Sommer hauptsächlich Birken widmete („Landschaft“, 1906-1910). Die in der Natur gewonnenen Eindrücke und das Studienmaterial bildeten die Grundlage für die Entstehung eindrucksvoller Kompositionen im Atelier des Künstlers. Viele seiner Werke sind dem Erwachen der Natur gewidmet, so zum Beispiel das Bild „Wenn der Kiefernhain erwacht“, das voller Hoffnung auf den Frühling ist (1930). Wie in vielen von Purvītis‘ Landschaften bilden auch hier Land, Himmel und Gewässer ein einheitliches Ganzes. Unter dem Frühlingshimmel befindet sich am Hang ein Wald aus Kiefernspitzen, Gruppen rötlich-weißer Birken sowie dunkelgrünen Fichten. Die Komposition ist so geschaffen, dass der Wald, der aus der Erde wächst und in den Himmel ragt, auch als Bindeglied wahrgenommen wird, das diese beiden Elemente zu vereinen sucht oder vielleicht den Weg von der Erde nach oben weist. Die unterbrochene Schneelinie im Vordergrund, der Rhythmus der weißen Birkenstämme und die unruhigen Wolkenmuster am Himmel zeugen von der Freude, die der Mensch schöpft, wenn der die ungestümen und hoffnungsvollen Turbulenzen der Naturprozesse erlebt.

Bezeichnenderweise wurde das Birkenmotiv auch für das Grabdenkmal von Vilhelms Purvītis verwendet. Entworfen wurde es vom Bildhauer Ojārs Feldbergs, der in den 1980er Jahren das Landschaftsthema in der lettischen Steinbildhauerei etablierte.
  Als 1915 die lettischen Infanteriebataillone aufgestellt wurden, schlossen sich diesen auch mehrere junge Künstler an und nahmen so direkt an den Kämpfen und Verlusten des lettischen Volks teil. In den Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden von Jāzeps Grosvalds (1892–1920) gehören Baumstämme – ohne Äste, ohne Blätter – zu den Symbolen dieser rauen Zeit. Er erfasste die Tragödie dieser Zeit in mehreren starken Kompositionen, in denen verwundete Soldaten durch den Wald gehen. Sie teilen ein gemeinsames Schicksal, und die Vertikalen der kahlen Stämme lassen die Stärke und Unbeugsamkeit der Infanteristen erkennen.

Wie bereits erwähnt, waren die dominierenden Meister der Landschaftsmalerei in der Kunst der Republik Lettland in den 1920er und 1930er Jahren Vilhelms Purvītis und seine Schüler, die ihre individuelle Sichtweise suchen und beweisen mussten. So wandten sich mehrere Künstler in den 1930er Jahren besonders der Darstellung von Kiefernwäldern (sili) zu.

Die in Vilhelms Purvītis' Meisteratelier für Naturansichten etablierte Arbeitsmethode – die sensible Beobachtung der Natur während des Studiums und das Vorhandensein einer persönlichen Haltung – bestimmte weitgehend auch die Ausbildung der folgenden Generationen von Landschaftsmalern; dabei ist erkennbar, wie sich die Art des Dialogs zwischen Mensch und Natur im Laufe der Zeit verändert hat. Die Künstler streben zunehmend nach der Entwicklung einer individuellen Handschrift, um ihre Botschaft zu vermitteln, was wiederum eine freiere, persönlichere Interpretation der in der Natur gewonnenen Eindrücke bedeutet. Der Respekt und die Liebe zur Natur bleiben bestehen, aber der Mensch versucht gewissermaßen zu beweisen, dass er der Natur in seiner Stärke mindestens ebenbürtig ist.
  Seine Sicht der lettischen Wälder dargelegt hat der Maler Rūdolfs Pinnis (1902–1992), dessen schöpferische Biografie stark von seinem zehnjährigen Studien- und Arbeitsaufenthalt in Paris (1929-1939) geprägt war. Sein Werk zeichnet sich durch Dekorativität und die Ablehnung des Illusionismus aus. Beim Malen von Landschaften, darunter auch Wälder, schuf der Künstler ausdrucksstarke Naturdarstellungen, wobei er besonders die Kraft der Natur zelebrierte.  Er war der Erste in der lettischen Kunst, der bereits in den 1950er Jahren bei seiner Arbeit vor allem in der Natur die in der Realität vorkommenden Farbnuancen maximierte und so ein neues Bild der heimischen Natur entwarf – farbenfroh, lebendig und mächtig.  Danach arbeitete er mehr im Atelier und setzt seine Natureindrücke in seinen Gemälden frei um.  In der Komposition „Der Maler“ (1985) porträtierte sich Rūdolfs Pinnis neben einem großen Baum, und es scheint, als würden hier auch Kunst und Natur in ihrer gewaltigen Kraft verglichen.
  Auch in der Kunst des Malers Valdis Bušs (1924–2014) verbinden sich Naturbeobachtung und persönliche Erfahrung in einer dekorativen Lösung. Jeder von ihm gemalte Baum im Wald ist etwas Besonderes – nie verschmelzen die Bäume zu einer einheitlichen Masse, und oft wird die Individualität des Baumes mit einer besonderen Lösung für jeden Stamm und/oder der Gestaltung des Laubs als eigenem Mikrokosmos noch betont.           
  Das 21. Jahrhundert hat viele Veränderungen mit sich gebracht, doch Wälder wachsen noch immer. Auch die Erfassung und Rettung lettischer Baumriesen, die 1976 vom Dichter Imants Ziedonis und seiner Gruppe der Baumriesenbefreier begonnen wurde, setzt sich fort. Die Künstlerinnen Gunta Brakovska und Laine Kainaize demonstrierten ihre Zugehörigkeit zu diesem bedeutenden Projekt mit der Gemäldeausstellung „Bäume. Baumriesen“ (Naturkundemuseum, 2020). Das Publikum konnte dabei einen Einblick in die ehrfürchtigen und respektvollen Dialoge der Künstlerinnen mit den Baumriesen – Zeugen unserer Geschichte und unserer Gegenwart – gewinnen. Neben der Bewunderung für die Kraft und die Macht der Natur verweisen die Gemälde auf die ewige Koexistenz von Leben und Tod und erinnern uns gleichzeitig an die Verantwortung des Menschen nicht nur für das Schicksal der Bäume und Wälder, sondern auch für das Schicksal der Welt.
  Die von Alexei Naumow in direkter Auseinandersetzung mit der Natur geschaffenen Landschaften bezeugen die Aufrechterhaltung und Fortführung der Naturstudien-Tradition. Das Malen im Freien bedeutet für ihn, das Naturgegebene zu nehmen und wahrzunehmen.  Das Licht des konkreten Augenblicks ist ausschlaggebend und bestimmt die Farbe und Form jedes Objekts. Der Künstler empfindet das Pleinair als eine Art Aufführung, bei der er mit der Natur verschmilzt – im Bewusstsein, nicht allein und nicht der Hauptdarsteller zu sein. Naumow hat auch in Purvītis' Geburtshaus gemalt (Vecjauži, 2013), und man wird nur schwer das Gefühl los, dass in der Darstellung der Bäume und der Stimmung der Landschaft tatsächlich die Anwesenheit von Purvītis selbst zu spüren ist.
 
Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bietet auch der Kunst neue Möglichkeiten. Das Kunstwerk „Der atmosphärische Wald“ (Atmosfēriskais mežs, 2020) von Rasa Šmite und Raitis Šmits wurde wiederholt in Lettland und international ausgestellt, zuletzt 2022 bei der Ausstellung Earthbound – In Dialogue with Nature (Ausstellungssaal Möllerei, Esch, Luxemburg). Rasa und Raitis Šmits sind international renommierte Künstler und Forscher, die sich mit der Beziehung zwischen Mensch, Natur und Technik beschäftigen. „Der atmosphärische Wald“ stützt sich auf die eigenen dreijährigen Beobachtungen der Šmits im schweizerischen Pfynwald sowie auf die Forschungen anderer Wissenschaftler über die Emissionen von Nadelbäumen (von den Bäumen abgegebene, gasförmige Stoffe, die den charakteristischen Geruch des Waldes erzeugen).  Er ist eine von den Künstlern geschaffene virtuelle Realität, in der Betrachter und Betrachterinnen einen Waldspaziergang erleben, den Geruch des Waldes genießen und die Interaktion zwischen dem Ökosystem der Erde und der Atmosphäre beobachten können.

Die dem Publikum gebotenen Fragmente des lettischen Kunstlebens bestätigen die Präsenz des Waldes in unserer Kultur als integraler Bestandteil der lettischen Natur und Landschaft. Künstler und Künstlerinnen erforschen die Natur, entdecken ihre persönliche Haltung und finden ihre Nähe zum aktuellen Zeitgeschehen – das Zusammenwirken dieser drei Komponenten ist ein hoffnungsvoller Garant für die Zukunft unserer Malerei.

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