Die aktuelle Situation zwingt viele Menschen auf der ganzen Welt, zu Hause zu bleiben. In dieser Isolation hören sie die Nachrichten einer globalen Krise und Bedrohung. Wie in Boccaccios „Il Decamerone” und vielen anderen Mythen und Büchern anderer Kulturen folgen auf die Beschreibung des Unglücks: Geschichten.
Das Projekt „Zeit zuzuhören” bietet eine Sammlung von Geschichten – erzählt von Erzähler*innen aus allen Bereichen der Kunst, von überall auf der Welt.
Für die zweite Phase des Digital-Projekts „Zeit zuzuhören“ rekapituliert der Kurator Thomas Böhm zusammen mit Wiebke Porombka, was bisher geschah, und gibt einen Ausblick auf die kommenden Schwerpunkte.
Eine Begegnung voller Intimität. Voller Hingabe. Eine Grenzüberschreitung. Ein Tanz im Licht „der Fatalität, die die Zeit charakterisiert, in der wir leben“.
In wessen Stimme schreiben Autorinnen und Autoren? Was bedeuten die Worte? Was heißt es, als Schreibender eine „eigene Stimme“ zu haben? Aris Fioretos, Sohn einer österreichischen Mutter und eines griechischen Vaters, aufgewachsen in Schweden, erzählt, wie er seine Stimme fand – während er seine Stimme von seinem Bild abspaltet.
Als Pao-Chang Tsai im Sommer 2009 in Thessaloniki Freunde besucht, ist er von deren Gastfreundschaft und Lebensfreude überwältigt. Er selbst war von seinem Vater zur Zurückhaltung erzogen worden, zu absoluter Bescheidenheit. Dazu nie jemandem einen Gefallen zu schulden. Die Mutter seiner Gastgeberin überraschte ihn jedoch mit einer ganz besonderen Geste.
Im Jahre 1968 besucht ein Überlebender des Atombombenabwurfs mit einer Delegation die deutsche Stadt Hannover. An einer Bushaltestelle kommt es zu einem Gespräch mit einem Mann, der die ausgestreckte Hand zurückzieht, als er hört, woher der Besucher kommt – aus Angst vor radioaktiver Strahlung.
Als das der Bürgermeister von Hannover erfährt, ergreift er die Initiative…
Der Spoken Word-Poet Teardrops erzählt die Geschichte der Bekanntschaft mit einer Frau, in die er sich verliebte. Er sparte Geld, um sie in Mombasa zu besuchen, doch sie tauchte tagelang nicht auf. Im entscheidenden Moment schickte sie ihm eine Nachricht.
Eigentlich wollte Edwige Renée Dro einen Sachtext zum Projekt besteuern. Doch unberechenbar, wie die Zeiten sind, hatte sie eine andere Inspiration – und erzählt eine Geschichte, in der ein Gegenstand die Hauptrolle spielt, den wohl nur die wenigsten als „Gott“ bezeichnen würden.
Véronique Tadjo liest ein Kapitel aus ihrem Roman „The Whispering Tree“, der von der Ebola-Epidemie in Westafrika im Jahre 2014. Ein junger Mann, dessen Verlobte sich mit dem Ebola-Virus infiziert hat, erinnert sich an ihre gemeinsame Liebe für Gedichte als den einzigen Weg, seine Liebe zu ihr auszudrücken.
Basierend auf einer wahren Geschichte: Beim Aussteigen aus dem Taxi fiel Roberta Estrela D’Alva ihr Handy in einen Gully. Es war damit in der Kanalisation verschwunden mit allen Telefonnummern und Notizen. Von allem dem gab es keine Sicherungskopie. Ihr war danach, um ein Wunder zu bitten, als sie ihren Nachbarn traf und ihm ihr Leid klagte. Am nächsten Morgen klingelt der Nachbar, um ihr etwas zu erzählen und zu zeigen.
Nicht mehr von ihrem Reisebegleiter gegängelt, beschloss Sally Shlalabi auf einer Thailandreise vor 15 Jahren, endlich Streetfood zu essen. Auf der Suche nach mehr von den köstlichen Gerichten begegnet sie einem Wahrsager. Sie bezahlt und hält ihm die noch vom Essen verschmierten Hände hin. Er macht ihr eine Prophezeiung fürs Leben ...
Unterwegs in den Fußstapfen des „Weltensammlers“ Richard Burton im heute von uns so genannten „Tansania“, kam Ilija Trojanow auf einen Markt, wo ihm eine alte Frau einen kostbaren Gedanken schenkte.
Claudius erinnert sich an seinen Bruder, den Vater Hamlets. Sein prächtiges Aussehen, das ihm die Sympathien seiner Untertanen einbrachte, besonders der Frauen. Er erinnert sich auch an die Kriege, durch die der Dänenkönig immense Macht gewann. Und schließlich erinnert er sich an Hamlet, den „arroganten Dandy“. Was hat ihn, Claudius, eigentlich daran gehindert, Hamlet zu töten?
Als Kind wuchs Kristina Tóth in einer Hochhaussiedlung auf, die in einem Vorort von Budapest gebaut wurde – die erste Hochhaussiedlung Ungarns, mit über 100.000 Bewohnern. In der 5. Klasse sollte sie für den Biologieunterricht eine Petunie mit in den Unterricht bringen. Eine gewöhnliche Blume, die in der Satellitenstadt jedoch kaum zu finden war. Da hatte die Mutter eine Idee …
Ein nigerianischer Mann in der New Yorker U-Bahn, in einem intensiven Selbstgespräch. Voller Worte, die seinem Beobachter vertraut sind. Lachend, den Kopf schütteln sagt er: „So geht es eben in der Welt zu.“ Die anderen Fahrgäste schauen weg, halten ihn für einen der vielen Verrückten in der U-Bahn. Da wendet er sich seinem Beobachter zu.
Auf seiner ersten Lesereise in Mexiko wurde Etgar Keret bei einer Signierstunde von einem großen Mann mit Schnauzbart auf Spanisch angesprochen. Keret dachte, der Mann wolle ein Selfie mit ihm. Doch statt ein Foto zu machen, umarmte der Fremde Keret innig.
Diese Episode wiederholte sich mehrfach, bis Keret herausfand, was seine Leserinnen und Leser wirklich zu ihm gesagt hatten.
Als Kind hasste Sergio Blanco alles an der Schule. Die Räume, die Idee der Schule selbst: „Die Regeln“, „die Normen“ lernen zu müssen. Auch die Lehrer hasste er und beschloss – angestachelt von Bildern aus der Literatur – die von ihm meistgehasste Lehrerin zu vergiften.
Eine Frau versucht ihrer Tochter zu erklären, warum sich der Vater so rücksichtslos verhält. „Er kämpft mit seinen Phantomen.“ Diese verstecken sich angeblich in seinem Handy und sie schicken ihm Nachrichten…
Der Erzähler erinnert sich an seine Kindheit, in der seine Mutter ihn betteln schickte und Schuldner abwimmeln ließ. Eine Erfahrung, die bis heute in seinen Träumen wiederkehrt. Mit welchen Gefühlen blickt er zurück?
Seit ihrer Kindheit erzählt ihr Vater von seinen Reisen mit einem Zug – auf einer der kürzesten Bahnstrecken Indiens. Doch nie gelingt es der Erzählerin, selbst einmal mit diesem Zug zu fahren. Bis sie schließlich den Auftrag eines Reisejournals bekommt – und ein Trip voller Überraschungen beginnt, der mit der Begegnung mit einem Verbrecher aus Not endet. Soll die Erzählerin ihn anzeigen?
Eines Tages bekam der Theaterautor Marius Ivaškevičius die Anfrage aus einer ihm unbekannten autonomen Republik in Südsibirien: Er sollte der National-Theaterschriftsteller Chakassiens werden. Er lehnte ab – doch er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit der Chakassen gerechnet…
Wenig ist bekannt über Alma, die im 18. Jahrhundert eine Gemeinde gegründet hat, in der heute 900 Familien leben. Alma war eine ehemalige Sklavin. Sie ging 400 Kilometer zu Fuß aus der Hauptstadt. Welche Erfahrungen sie auf ihrem Weg machte, welche Gedanken sie beschäftigten, was sie antrieb, imaginiert Itamar Vieira Junior.
Von ihrer Wohnung aus blickt die Erzählerin auf einen Fluss, einen Friedhof – und eine Straße zwischen beiden; gewissermaßen zwischen Leben und Tod. Sie erzählt von ihrer Mutter, erinnert sich an deren göttinnengleichen Fähigkeiten, an ihre Marotten. Und wendet sich da an ihre „Liebe Mei!“ – ihre „Liebe Mutter“ – um ihr eine Botschaft zwischen Leben und Tod zu senden.
Als David 7 Jahre alt ist, sieht er im Fernsehen eine Szene aus dem Hollywood-Klassiker „The Sound of Music“: Eine Nonne singt das Lied „Climb every mountain“, das David von da an begleitet und ihm an einem wichtigen Punkt seines Lebens die Kraft gibt, eine schwierige Entscheidung zu treffen.
In ihrer Schulzeit entdeckte Alissa Ganieva eines Tages eine Art Balkon unterhalb des Fensters ihres Klassenraums. Weil sie erkannte, dass die anderen diesen nie wahrgenommen hatten, wettete sie, sie würde sich aus dem Fenster stürzen. Und sie sprang wirklich, mit anderen Folgen als sie vorausgesehen hatte.
In seiner Studentenzeit mietete Jordi Puntí mit Freunden in Barcelona eine Wohnung. Der Vermieter behielt den Schlüssel zu einem fensterlosen Raum, den die Freunde nicht betreten durften. Die Freunde begannen zu spekulieren: Befand sich eine pornographische Sammlung darin? Fiel da nicht Licht unter der Tür hervor? War es ein Tor zur Hölle? Was war das Geheimnis des verschlossenen Raumes?
Ein Ausflug mit der Familie, ein Haus im Wald. Die marinierten Hühnchen bruzzeln auf dem Lagerfeuer – und locken unerwarteten Besuch an. T. C. Boyle erzählt eine Geschichte mit überraschender Wendung, die zeigt, dass es selbst in den schlimmsten Situationen noch eine Erlösung geben kann.
Galis Mutter kam als Waisenkind nach Israel aus der Bukowina, wo sie sich und ihrem Bruder mit ihren Nähkünsten das Überleben gesichert hatte. Das Mädchen schämt sich seiner Mutter, weil diese keine gebürtige Israelin ist. Trotz der Mutters Hilfe besteht Gali den Nähkurs in der Schule nicht.
Eindrücke von einer Straße in Rom, die sich völlig von den anderen unterscheidet. Menschen, die nicht hinter materiellen Dingen her sind, die ihren Geschichten in ihren Gedanken folgen und eine Farbe wahrnehmen, die immer wieder zurückkommt ...
Der 19-jährige Simon segelt ein Jahr lang auf einem kleinen Schiff mit einem Freund und dessen Vater durch das Mittelmeer, die französische und spanische Küste entlang. Trotz eines Schiffbruchs, beschließen sie, ohne Motor weiterzumachen, wie in den alten Zeiten.
Als Kind in Rumänien sollte Herta Müller einen neuen Wintermantel bekommen. Einen mit Kragen und Manschetten aus Fuchsfell. Beim Aussuchen des Fuchsfells fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen Fuchs und Jäger auf. Der Geheimdienst folgte ihr später in ihre Wohnung und hinterließ Zeichen.
Als Bildender Künstler in New York bekommt Hallgrímur Helgason eines Tages Besuch von einem isländischen Landsmann, der sich im Laufe des Abends immer exzessiver betrinkt. Beim Essen kommt es zu einem vielsagenden Fauxpas.
Sofi Oksanen erzählt von einem Ort, an dem zu Zeiten der Sowjetunion – unbeobachtet vom Staat – ein freier Gedankenaustausch gedeihen konnte. Ein Ort, an dem jahrzehntelang Träume und Hoffnungen bewahrt wurden und seit Generationen eine einzigartige Kunst gepflegt wird ...
Shamin Chibba erzählt die Lebensgeschichte seiner Großmutter. Dabei fließen Gegenwart und Vergangenheit ineinander: Erinnerungen an ein hartes Leben, an politische Ereignisse in Indien, Schicksalsschläge genau wie Alltagserlebnisse… Momente eines Lebens.
Gegen die Angst und das Gefühl der Einsamkeit, das sich in diesen Zeiten einschleicht, handeln die Worte in diesem poetischen Text, der mit den Zeilen schließt: „… so entsteht Liebe“.
Katharina wird von ihrem Vater, dem Zar, an den Sultan verheiratet. Sie ist seine 99. Ehefrau und direkt nach ihrer Hochzeit vergisst er sie. Bei einer Disko, die der Sultan veranstaltet, werden den Musikern die Augen verbunden. Da verrutscht die Augenbinde des gutaussehenden Gitarristen und die Geschichte nimmt ihren Lauf...
Bae Suah hat ein Schreibstipendium in Marokko. Doch ihr Aufenthalt nahm unerwartete Formen führte zu neuen Eindrücken – und zum Anblick von Katzen, die wie Panther durch leere Straßen streifen, mit Gesichtern, die wirken, als seien sie verkleidete Propheten.
Pavlina Marvin erzählt von Irini, einer Freundin, die ihr in Studienzeiten einen geblümten Mantel geschenkt hat, den sie bis heute trägt und auf dem noch alle Blumen vorhanden sind. Als sich die beiden jüngst in Athen treffen wollten, kam Irini nicht – sie kümmerte sich um einen Inder, der aufgrund der Pandemie seinen Job verloren hatte und so in große Not geriet.
Der Schriftsteller und Übersetzer Michal Hvorecký arbeitet in einer Bibliothek in Bratislava, in die eines Tages ein Herr kam und sich als Enkel eines weltbekannten Schriftstellers ausgab. Diese Begegnung sollte Folgen haben.
Die Geschichte von Steinunn Sigurðadottir beginnt am Fuße von Europas größtem Gletscher Vatnajökull. Im Jahre 1910 wurde dort eine Magd schwanger – vom Hausherren, weshalb sie, wie es leider üblich war, den Hof verlassen musste. Sie ging nach Reykjavík, zu Fuß, was damals 7 Tage lang dauerte.
So beginnt eine Reise durch die Jahrzehnte, an deren Ende Steinunns Lebensgeschichte anfängt. Und eine Geste der Großzügigkeit und Herzensgüte offenbart wird.
Umsetzung: Thomas Böhm (Texte, Redaktion und Konzeption), Dr. Anne-Bitt Gerecke, Martin Bach, Marie Kiewe (Redaktion und Konzeption), Marcus Sporkmann (Videoredaktion) und Eliphas Nyamogo (Redaktion)