Paradigmenwechsel durch Digitalisierung
Mehr Freiräume im Unterricht

Smartphones können einen Mehrwert für den Unterricht schaffen.
Smartphones können einen Mehrwert für den Unterricht schaffen. | Foto (Ausschnitt): © Budimir Jevtic - Fotolia.com

Das Smartphone ist der ständige Begleiter des Menschen. Nur im Unterricht an vielen Schulen herrscht noch Smartphone-Verbot. Wie können digitale Medien genutzt werden, sodass am Ende mehr Zeit für die individuelle Förderung und den Austausch im Präsenzunterricht steht?

Obwohl unser Alltag nahezu vollständig von digitalen Medien bestimmt ist, hat sich die institutionelle Lehre bisher kaum verändert. Nach wie vor wird zumeist „klassisch“ gelehrt, indem eine Lehrkraft den mehr oder weniger aufmerksamen Lernenden die Inhalte mit Hilfe verschiedener Printmaterialien vermittelt. Dass dies nicht so bleiben kann, wird trotz der Abwehrhaltung vieler Lehrkräfte immer offensichtlicher.

Aussagen wie „Alle bisherigen Modelle und Theorien der Technisierung und Medialisierung von Unterricht sind gescheitert“ oder Forderungen, nach denen die Schulen auf WLAN-Versorgung warten sollen, bis alle Datenschutzfragen eindeutig geklärt sind (Lankau 2016), können die Entwicklung zwar punktuell verzögern, aufhalten werden sie die Digitalisierung der Lehre jedoch nicht.

Mehr als bloße Anreicherung durch digitale Medien

Mittlerweile ist klar, dass es nicht ausreicht, die klassische Lehre mit digitalen Inhalten zu ergänzen und im Hörsaal oder Seminarraum moderne Technologien einzusetzen (Wannemacher et al. 2016). Ein derartiges „Anreicherungsmodell“ verändert die klassische Lehre nur geringfügig und führt dazu, dass die Präsenzlehre zunehmend entwertet wird. Nach der Abschaffung der Anwesenheitspflicht an vielen deutschen Hochschulen sagen sich viele Studierende zu Recht: „Warum soll ich eine Präsenzveranstaltung besuchen, wenn deren Inhalte im Netz stehen?“ Lehrende müssen also mehr tun, als ihren klassischen Unterricht nur mit PDF-Dokumenten, Lehrvideos oder Tablet-PCs auszubauen.
 
Erst wenn Lehrkräfte digitale Komponenten vollständig in ihren Unterricht integrieren, führt das zu gewünschten Effekten, wie der Aufwertung der Präsenzphase oder mehr Individualisierung. Wie die Integration funktionieren kann, zeigt ein Lehrmodell, bei dem sich die zentralen Aktivitäten des Lehrens und Lernens verschieben: Auf eine vollständig digitale Phase der selbstgesteuerten Inhaltsvermittlung folgt eine Phase der angeleiteten Inhaltsvertiefung in Präsenzveranstaltungen.

Eine Lerneinheit im Inverted Classroom Eine Lerneinheit im Inverted Classroom | Abbildung: © Jürgen Handke

Digitale Inhaltsvermittlung und Üben im Präsenzunterricht

Die Grundidee des Inverted Classroom Modells (ausführliche Beschreibung siehe Handke/Schäfer 2012: 94ff) ist einfach: Lernende erarbeiten sich die vollständig digitalisierten Inhalte einer Lerneinheit online und können währenddessen auf verschiedene digitale Elemente, wie Lehrvideos, Texte und weitere multimediale Komponenten, zugreifen. Dadurch ist der Wissenserwerb örtlich und zeitlich ungebunden. Es entsteht folglich eine Lernerautonomie, die in der klassischen Lehre mit ihren festen Rahmenbedingungen unmöglich war: Lernerinnen und Lerner können zwischen verschiedenen Lernmaterialien wählen, sie können eigene Lernpfade einschlagen und ihre Lernintensität selbst bestimmen.
 
Im Anschluss an die digitale Inhaltsvermittlung erfolgt eine völlig neu konzipierte Präsenzphase, in der Lernende nun nicht mehr das Wissen erwerben, sondern es einüben und dadurch ihre Fachkompetenzen erweitern. Durch den Wegfall der Wissensvermittlung in der Präsenzphase entstehen Freiräume, die Lehrende für den individuellen Austausch mit den Lernerinnen und Lernern auch bei Kursen mit hohen Teilnehmerzahlen nutzen können.

Gute digitale Materialien sind Voraussetzung

Damit ein solches Blended-Learning-Format auch funktioniert, bedarf es einer Reihe von Voraussetzungen. So muss zum Beispiel der digitale Inhalt in der ersten Phase qualitativ hochwertig und vielfältig sein, um den Lernenden individuelle Möglichkeiten zum selbstgesteuerten Wissenserwerb zu geben. Mit digitalen Texten oder mit einfachen Vorlesungsaufzeichnungen allein ist es hier nicht getan. Doch auch die Diversität und Qualität des digitalen Materials garantiert nicht, dass die Lernerinnen und Lerner gut vorbereitet in der anschließenden Präsenzphase erscheinen. Um ihren Wissensstand zu ermitteln und daraus sowohl die Inhalte als auch die Struktur der Präsenzphase abzuleiten, werden während der selbstgesteuerten Lernphase formative Tests durchgeführt. Diese motivieren die Lernenden wiederum, sich ausführlich mit den digitalen Inhalten auseinanderzusetzen und tragen somit zu einer angemessenen Vorbereitung auf die Präsenzphase bei (Handke 2016). Die Begleitung der digitalen Inhaltsvermittlung durch zwischengeschaltete formativen (Mastery) Tests ist die Neuerung im Inverted Classroom Mastery Modell, das seit 2013 in der Marburger Anglistik/Linguistik als Standardmodell genutzt wird. Zusätzlich gewinnt  die Lehrperson auch durch das Live-Voting in der Präsenzphase Erkenntnisse über den Vorbereitungsstand der Lernenden.  

Das Inverted Classroom Mastery Modell (ICMM) Das Inverted Classroom Mastery Modell (ICMM) | Abbildung: © Jürgen Handke

Lehrperson wird zum Coach

Mit Hilfe des Inverted Classroom Modells wird der klassische Hörsaal zu einem kooperativen Lernort, bei dem mobile Endgeräte unverzichtbare Hilfsmittel, zum Beispiel für die Recherche oder das Live-Voting, sind. Dass dabei auch klassische Sitzreihen- oder U-Form-Architekturen nicht mehr zielführend sind und durch Lerninseln ersetzt werden sollten, an denen die Lernenden problemlos kommunizieren und kooperieren können, ist ein weiterer Nebeneffekt.
 
Als Lehrpersonen gewinnen wir durch den Wegfall der Notwendigkeit, Inhalte im Hörsaal vermitteln zu müssen, enorme Freiräume. Im hochgradig „interaktiven“ Präsenzgeschehen können wir uns nun um einzelne Lernende kümmern, wir können durch gezielte Aufgaben fachspezifische und allgemeine Kompetenzen schulen und es gibt neue Möglichkeiten der digitalen Kollaboration. In einer derartigen Präsenzphase ändert sich die klassische Lehrerrolle so, wie es die amerikanische Pädagogin Alison King bereits 1993 prophezeit hat: „From Sage on the Stage, to Guide on the Side“ und man wird zum Lernbegleitenden mit einer permanenten Beratungsfunktion. Und ganz allmählich erkennen auch die Studierenden den Wert dieser neuen Präsenzphase: So erscheinen sie auch nach Wegfall der Präsenzpflicht und fehlen nur selten (Handke 2017).
 
Durch die starke Kompetenzorientierung der Präsenzphase hat sich auch das Prüfen verändert. Reine Wissenstests über beispielsweise Multiple-Choice-Formate spielen in diesem Modell nur noch als formative elektronische Tests im Lernprozess selbst eine Rolle (vgl. Abb. 2). In den elektronischen Klausuren am Kursende werden dagegen primär Kompetenzen überprüft. Daher dürfen die Lernenden auch das Internet bei derartigen Prüfungen nutzen, eine weitere Respektierung der Alltagswirklichkeit.

Mehr Zeit für den Lernenden

Mit einem funktionierenden Inverted Classroom Modell können gerade in Fächern, in denen Grundlagenwissen mit Übungsphasen verknüpft wird, enorm gewinnen. So können Studierende in der Linguistik nach der digitalen Phase in der Präsenzphase intensiv phonetische oder grammatische Kompetenzen üben. Außerdem können Daten analysiert oder theoretische Ansätze auf den Prüfstand gestellt werden.
 
Bei der Vermittlung von Sprachen eignet sich dieses Modell mindestens ebenso gut: Nach der Vermittlung von Inhalten, wie dem Flexionsmuster oder Wortarten, bleibt in den Präsenzphasen mehr Zeit für das individuelle Üben, und – durch die Möglichkeit des ständigen Austausches mit den Lernenden, wesentlich mehr Zeit für die maßgeschneiderte Betreuung. Anstatt den Inhalt zu vermitteln, haben die Lehrenden schlicht mehr Zeit für die einzelnen Lernenden – gerade im Sprachunterricht ist dies nicht hoch genug einzuschätzen.
 

Literatur

Handke, Jürgen (2013): Beyond a simple ICM. In: Handke, Jürgen/Kiesler, Natalie/Wiemeyer, Leonie (Hg.): The Inverted Classroom Model. Konferenzband zur 2. ICM Fachtagung in Marburg 2013. München: Oldenbourg Verlag, S. 15-22.

Handke, Jürgen (2016): Die Wirksamkeit der Präsenzphase im Inverted Classroom. In: Großkurth, Eva Marie/Handke, Jürgen (Hg.): Inverted Classroom and Beyond. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Marburg: Tectum Verlag, S. 27-40.

Handke, Jürgen (2017): Nutzerverhalten im Inverted Classroom Mastery Modell. In: Handke, Jürgen/Zeaiter, Sabrina (Hg.): Inverted Classroom and Beyond. Unveröffentlichter Konferenzband, Marburg.

Hochschulforum Digitalisierung (2016): The Digital Turn. Hochschulbildung im Digitalen Zeitalter. Essen: Edition Stifterverband.

Lankau, Rolf (2016): Digitalisierung und schulische Bildung.

Wannemacher, Klaus/Jungermann, Imke/Scholz, Julia/Tercanli, Hacer/Villiez, Anna von (2016): Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich. Berlin: Geschäftsstelle Hochschulforum Digitalisierung.