Buchpräsentation | Gespräch Jaroslav Rudiš im Gespräch mit Guido Snel über Nationalstraße

Jaroslav Rudiš | Het volk boven © Suhaila Sahmarani (links) | Uitgeverij Nobelman (rechts)

Mi, 13.06.2018

20:00 Uhr

Goethe-Institut Amsterdam

Literaturcafé

Jaroslav Rudiš präsentiert im Goethe-Institut Amsterdam die niederländische Übersetzung seiner Novelle Nationalstraße (übersetzt von Edgar de Bruin, niederländischer Titel: Het volk boven). Er spricht mit Guido Snel, Dozent für Moderne Europäische Literaturwissenschaften an der Universität von Amsterdam, über sein literarisches Werk, seine Musik und seine Theaterstücke.
 

Nationalstraße:
Vandam war einer von denen, die es losgetreten haben am 17. November 1989, als unten in der Prager Altstadt auf der Nationalstraße die samtene Revolution ins Rollen kam, die einige Wochen später das kommunistische Regime hinwegfegte. Damals war Vandam ein junger Polizist, ein Vorstadtheld oben in der Plattenbausiedlung des neuen Prag, die dem Wald abgetrotzt mitten in rauer Natur liegt. Dort oben haben sie als kleine Jungs heimlich Krieg gespielt, dort hat Vandam nach seinem Vater gesucht, wenn der wieder einmal angedroht hatte, er würde sich erhängen, bis er am Ende doch übers Balkongeländer sprang.
Fünfundzwanzig Jahre später wohnt Vandam immer noch in der Plattenbausiedlung seiner Kindheit. Längst ist er kein Held mehr, sondern ein Verlierer: Wegen Gewaltexzessen aus dem Polizeidienst entfernt, prügelt er sich als einsamer Schläger durch Tage und Nächte und hebt im Fußballstadion regelmäßig die rechte Hand zum Hitlergruß. "Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen? Ich bin ein Europäer. Ihr etwa nicht? Heil dem Volk! Heil Europa! Neger raus. Zigos raus. Sozialschmarotzer raus. Schwuchteln raus. Böhmen den Tschechen."
Gekonnt schlüpft Jaroslav Rudiš in diesem brillanten Monolog in den Kopf und den Körper eines Schlägers: "Da wird mir das alles zu viel, meine Hand zuckt schon wieder, mein Herz pocht, ich spüre, wie sich alles in mir staut, wie es raus will, wie mein ganzer Körper kribbelt. Ich atme tief ein und aus, zum Schluss habe ich mich wieder." Rudiš Buch gleicht einem Schlag in die Magengrube – und basiert auf einer realen Figur.

Jaroslav Rudiš (*1972 in Turnov, Tschechoslowakei) ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Germanistik, Geschichte und Journalistik an der TU Liberec, der Karls-Universität Prag und der FU Berlin. Er arbeitete als Hotelportier, Lehrer und Journalist. 2012/13 hatte er die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Rudiš ist Autor zahlreicher tschechischer und deutschsprachiger Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Kinodrehbücher, Essays und Musikprojekte. Als Publizist arbeitet er regelmäßig für internationale Medien, u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur, WDR, SWR, RBB, BR, MDR, den Tschechischen Rundfunk und die BBC.
Die Geschichte Mitteleuropas und die Geister der Vergangenheit sind immer wieder Gegenstand von Rudiš' Werken. Dieses Motiv verwendet er besonders in seinem zweiten Roman Grandhotel, der in Liberec, einer Grenzstadt zwischen Tschechien, Polen und Deutschland, spielt und auch in dem Roman Vom Ende des Punks in Helsinki, der 2014 auf Deutsch erschienen ist und sich mit der Punkszene in der ČSSR und der DDR sowie auch mit aktuellen Themen wie Gentrifizierung befasst. Auch seine Romane Der Himmel unter Berlin und Die Stille in Prag reflektieren die Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehung und ihre Sehnsuchtsorte. Sein aktueller Roman Nationalstraße fokussiert auf die Zeit nach der Wende in Tschechien und Mitteleuropa.
Rudiš' Romane wurden ins Deutsche, Polnische, Serbische, Schwedische, Ukrainische, Französische, Finnische, Niederländische, Spanische und Italienische übersetzt und erfuhren Adaptionen für Bühne, Hörfunk und Film.
Zusammen mit dem Grafiker Jaromír 99 schuf er die erfolgreiche und ebenfalls verfilmte Comictrilogie Alois Nebel. Die Hauptfigur ist der einsame Eisenbahner Alois, der auf einem kleinen Bahnhof im tschechischen Grenzgebiet seinen Dienst tut. Alois wird von der bewegten Geschichte des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa eingeholt und verfällt dem Wahnsinn. Die gleichnamige Filmadaptation feierte große internationale Erfolge, gewann 2012 den Europäischen Filmpreis (Kategorie Bester Animationsfilm) und lief 2013 in den deutschen Kinos an.
Als Musiker hat Rudiš 2007 zusammen mit Jaromír 99 die Band Jaromír 99 & The Bombers und 2013 die Kafka Band, die den Roman Das Schloss von Franz Kafka musikalisch umgesetzt hat, gegründet.
Jaroslav Rudiš schreibt auf Tschechisch und Deutsch, spricht auch Englisch, Russisch, Polnisch und Slowakisch und lebt als freier Autor in Berlin und Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies. 2014 erhielt er den Usedomer Literaturpreis für seine "wichtige tschechische Stimme im Konzert der europäischen Gegenwartsliteratur" und damit seinen Beitrag zum europäischen Dialog, wie die Jury unter dem Vorsitz von Hellmuth Karasek mitteilen lies.

In Zusammenarbeit mit dem Tsjechisch Centrum Rotterdam.

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