Flipped Classroom
Sprachenlernen per Videobotschaft

Umgedrehter Unterricht mit Lernvideos
Umgedrehter Unterricht mit Lernvideos | Foto (Ausschnitt): © Andrey Popov - Fotolia.com

Wie klingt das deutsche „Ü“? Wie wird ein Passivsatz gebildet? Das erfahren Deutschlernende in Fachbüchern – oder in Erklärvideos von Lehrkräften.

Marcus von Amsberg ist Deutschlehrer an einer Hamburger Stadtteilschule, in der Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Fähigkeiten gemeinsam unterrichtet werden. In seiner Klasse sitzen sowohl Förderschüler als auch Gymnasiasten. Um ihnen dennoch eine individuelle Vorbereitung neuer Themenbereiche zur ermöglichen, arbeitet Marcus von Amsberg mit Lernvideos, in denen er seine selbsterstellten Materialien zusätzlich erläutert. Die Videos umfassen Themenfelder wie Satzglieder, Wortarten oder Zeitformen und sind ähnlich aufgebaut wie eine Präsentation, wobei die notwendigen Erklärungen als Kommentarton unterlegt sind.

„Das Partizip II besteht aus einer Vorsilbe, Fachsprache Präfix, einem Verbstamm und einer Endung“, sagt Amsberg etwa zu Beginn seines Videos Partizip II, bevor er die einzelnen Formen einführt und Beispiele aufzeigt. Die wichtigsten Fachbegriffe notiert er in verschiedenen Farben wie auf einem Whiteboard. In der Regel sollen sich die Schülerinnen und Schüler ein Video zur Vorbereitung auf eine Schulstunde zuhause ansehen, im Unterricht bleibt dann mehr Zeit zum Lernen. „Flipped Learning“ oder „Flipped Classroom“ – also umgedrehter Unterricht oder umgedrehtes Klassenzimmer wird diese Methode unter Praktikern wie Marcus von Amsberg genannt.

Nicht nur seine eigenen Schüler arbeiten mit den Lernvideos, die auf ivi-education.de und Youtube kosten- und werbefrei zu sehen sind. Täglich bekommt Marcus von Amsberg Rückmeldungen – etwa von DaF-Lernenden, die auf seine Materialien gestoßen sind: „Von Kollegen werde ich manchmal dafür kritisiert, dass ich in meinen Videos sehr langsam und deutlich spreche und alles benenne, was in der Präsentation zu sehen ist. Leistungsschwache Schüler und Nicht-Muttersprachler sind aber dankbar, dass sie meine Erklärungen verstehen und in den Videos gleichzeitig ein Sprachvorbild haben“, betont der Deutschlehrer.

Jeder in seinem Tempo

Auch Birgit Jensen, Germanistikprofessorin an der East Carolina University, setzt selbsterstellte Erklärvideos ein, um ihren Studierenden die deutsche Sprache näher zu bringen: „Im Unterricht kommt es immer wieder vor, dass sich die einen langweilen, während andere den Stoff nicht verstehen, weil sie langsamer sind oder ihnen Grundlagen fehlen. Die Videos bieten den Studierenden die Möglichkeit, sich Basiswissen anzueignen, Erklärungen und Definitionen zeitunabhängig zu wiederholen oder Passagen zu überspringen, deren Inhalte schon bekannt sind.“

Birgit Jensen nutzt Videos im Fremdsprachenunterricht auch für muttersprachliche Grammatikerklärungen, die ihre Studentinnen und Studenten als Basis für den Deutscherwerb benötigen: „Viele wissen nicht, was ein Adjektiv oder ein Nebensatz im Englischen ist, sodass ich bei der Einführung deutscher Grammatikphänomene nicht selbstverständlich darauf zurückgreifen kann. Wenn ich diese Erklärung per Video vermittele, bleibt mir im Seminar mehr Zeit, um mit den Teilnehmenden authentisch auf Deutsch zu kommunizieren.“

Kostbare Unterrichtszeit sparen

Die Lehrmethode Flipped Classroom/Flipped Learning wurde zunächst in den USA eingesetzt und ist seit etwa drei Jahren auch in Deutschland zunehmend beliebt. Anders als beim klassischen Anweisungsunterricht findet die Stoffvermittlung über die Hausaufgaben statt, sodass die knappe Unterrichtszeit zum Anwenden und Üben der Inhalte genutzt werden kann.

Durch die Videos können die Schüler Lehrinhalte selbstbestimmt rezipieren und eventuelle Verständnisprobleme später im Unterricht erläutern. „Vor allem, wenn es um individuelle Fragen und Problemlösungen geht, sind Schüler auf Unterstützung durch die Lehrkraft angewiesen“, erklärt Gymnasiallehrer Felix Fähnrich. Zusammen mit seinem Kollegen Carsten Thein nutzt er das Prinzip des Flipped Classroom überwiegend im Fach Mathematik. Mittlerweile arbeitet er auch mit einem Lehrbuchverlag zusammen und gibt seine Erfahrungen regelmäßig in Vorträgen und Workshops weiter. Denn dank entsprechender Apps können auch weniger technikaffine Lehrkräfte Erklärvideos erstellen.

Kurze und präzise Lerninhalte sind wichtig

Qualitativ hochwertige Erklärvideos, da sind sich die Experten einig, bringen die Lerninhalte kurz, strukturiert und präzise auf den Punkt. Idealerweise sollten sie nicht länger als sechs Minuten sein. „Wenn jemand eine Präsentation filmt und sich darin ständig wiederholt, nervt das die Schüler. In guten Videos ist jeder Satz durchdacht“, sagt Marcus von Amsberg. Birgit Jensen legt zudem auch in ihren Videos viel Wert auf Humor: „Damit sich meine Studierenden die Erklärstücke überhaupt ansehen, muss ich sie motivieren. So setze ich zum Beispiel in einem Video zu den Präpositionalphrasen zur Auflockerung den Beatles-Song She came in through the bathroom window ein – wobei es allerdings natürlich Urheberrechte zu beachten gilt.“

Gute Lernvideos herzustellen, kostet also Zeit. Doch wie alle hochwertigen Unterrichtsmaterialien lassen sie sich wiederholt einsetzen. Zudem stehen sie online allen Lernenden und interessierten Kollegen zur Verfügung. „In den USA ist mit der Khan Academy auf diese Weise ein riesiges kostenloses und für alle zugängliches Lernsystem entstanden“, schwärmt Felix Fähnrich. Weil diese englischsprachigen Materialien für deutschsprachige Schüler allerdings nur bedingt geeignet sind, möchte er die Vernetzung unter Kollegen auch hierzulande fördern – unter anderem mit dem Portal umgedrehterunterricht.de, auf dem Lehrkräfte ihre Materialien veröffentlichen und sich über ihre Erfahrungen austauschen können.