Vorteile der Mehrsprachigkeit
Wie beeinflusst das Erlernen neuer Sprachen das Gehirn?

Mehrsprachigkeit verändert die Struktur und Funktion des Gehirns.
© Kristina Wiebels

Das Erlernen einer neuen Sprache ist nicht nur der Weg zu neuen Kulturen, Kontinenten, und Menschen, es hat auch signifikante Auswirkungen auf das Gehirn. Neurowissenschaftlerin Kristina Wiebels untersucht die verborgenen Vorteile des Denkens in mehr als einer Sprache. 

Eine neue Sprache zu lernen ist keine einfache Sache. Stundenlanges Lernen von Vokabeln, Grammatik und Rechtschreibung entspricht nicht jedermanns Vorstellung von einem entspannten Abend zu Hause. Aber die Vorteile liegen auf der Hand: Das Erlernen von Fremdsprache öffnet Türen zu ganz neuen Welten. Aber es bringt auch andere Vorteile, die nicht so offensichtlich sind. "Zweisprachige Gehirne sind gesünder", sagt Ellen Bialystok, angesehene Forschungsprofessorin der Psychologie an der York University in Kanada. Professorin Bialystok und Kollegen erforschen, welche Auswirkungen die Zweisprachigkeit in verschiedenen Lebensphasen auf das Gehirn hat – wie sie die Wahrnehmung von Kleinkindern prägt, welchen Effekt sie auf kognitive Fähigkeiten von Erwachsenen hat und wie sie Gehirnveränderungen im fortschreitenden Alter beeinflusst. Mittels moderner bildgebender Verfahren – wie z. B. der funktionellen Magnetresonanztomographie und der Elektroenzephalographie – können Wissenschaftler Geheimnisse des Gehirns entschlüsseln, die uns normalerweise verborgen bleiben. 

Gehirndaten, die mittels moderner bildgebender Verfahren produzieren werden, um die Effekte der Zweisprachigkeit zu erforschen. © NIMH - US Department of Health and Human Services: National Institute of Mental Health Forscher setzen sich mit einer Reihe faszinierender Fragen über die Vorteile des Fremdsprachenlernens auseinander. Werden beispielsweise beide Sprachen in denselben Regionen des zweisprachigen Gehirns "gespeichert" and verarbeitet, oder werden sie voneinander getrennt gehalten? Welche Auswirkungen hat die Zweisprachigkeit auf die Kognition? Ist es für Kinder verwirrend zweisprachig aufzuwachsen, oder ist es vorteilhaft? Und kann das Erlernen neuer Sprachen das Gehirn fit halten? Auch wenn es noch viel zu erforschen gibt haben wir mittlerweile Antworten auf die meisten dieser Fragen.  

Sprachen überschneiden sich und interagieren miteinander im Gehirn

Das Sprachzentrum im Gehirn besteht aus mehreren Regionen hauptsächlich in der linken Hemisphäre, von denen jede darauf spezialisiert ist, einen bestimmten Aspekt der Sprache zu verarbeiten. Dazu gehören z. B. Sprachproduktion, Sprachverständnis und die Verarbeitung eingehender Sprachsignale. Experimente zeigten, dass im zweisprachigen Gehirn beide Sprachen gleichzeitig aktiv sind, selbst wenn ausschließlich eine Sprache in einem bestimmten Kontext verwendet wird. Dies stellt besondere Herausforderungen an das Gehirn. Wie behält man den Überblick darüber, welche Worte zu der Sprache gehören, die gerade gesprochen wird und welche Worte unterdrückt werden müssen? Dies erfordert zusätzliche Arbeit sogenannter exekutiver Gehirnfunktionen. So wie der Dirigent seine Musiker koordiniert, um das richtige Tempo beizubehalten und die verschiedenen Instrumente harmonisch zusammenzuführen, koordinieren Exekutivfunktionen Verhaltensweisen, um die Aufmerksamkeit zu fokussieren und Ziele zu setzen und zu verfolgen. Zweisprachige nutzen Exekutivfunktionen zusätzlich zu der typischen Sprachverarbeitung in einem größeren Ausmaß als Einsprachige, um irrelevante Informationen auszublenden. Exekutivfunktionen fungieren in diesem Kontext wie eine Ampel, die es einer Sprache erlaubt, fortzufahren, während sie die andere stoppt. Dieses kontinuierliche Überwachen führt dazu, dass die Sprachverarbeitung für Zweisprachige mit einem höheren kognitiven Aufwand verbunden ist, was Nachteile mit sich bringen kann, wie z. B. reduzierte Sprechflüssigkeit. Aber die Vorteile der Zweisprachigkeit überwiegen bei weitem.  

Sprachzentren im Gehirn. Links: die Broca-Region (Sprachproduktion), Mitte: die Wernicke-Region (Sprachverständnis), rechts: der primäre auditorische Cortex (Verarbeitung eingehender Sprachsignale). Klicken Sie auf die Bilder, um zu interaktiven Gehirnmodellen zu gelangen und weitere Informationen zu diesen Regionen zu erhalten. © Society for Neuroscience (2017) Sprachzentren im Gehirn
Links: die Broca-Region (Sprachproduktion), Mitte: die Wernicke-Region (Sprachverständnis), rechts: der primäre auditorische Cortex (Verarbeitung eingehender Sprachsignale). 

Zweisprachigkeit stärkt Gehirnbereiche, die exekutiven Funktionen zugrunde liegen

Der ausgiebige Gebrauch von Exekutivfunktionen spiegelt sich in der Gehirnaktivität Zweisprachiger wieder: Hirnregionen im präfrontalen Cortex, die für diese Prozesse verantwortlich sind, werden zusätzlich zu dem typischen Sprachnetzwerk aktiviert. Diese zusätzliche Aktivierung trainiert das Gehirn, was dazu führt, dass Gehirnvolumen dieser Bereiche vergrößert, und deren Funktion gestärkt wird. Dies wiederum verbessert die kognitive Leistung bei Aufgaben, die auf diesen Funktionen basieren. Resultate vieler Studien zeigen, dass Zweisprachige bei Aufgaben, die inhibitorische Kontrolle, flexibles Wechseln zwischen Aufgaben, Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeitssteuerung erfordern, Stärken zeigen. All dies sind Exekutivfunktionen, die entscheidend für den akademischen Erfolg, langfristige Gesundheit und Wohlbefinden sind. Das Ausmaß dieser zusätzlichen Hirnaktivität und die damit verbundenen Vorteile scheinen nicht davon abhängig zu sein, welche Sprachen gesprochen werden. Entscheidend ist Kompetenz in der zweiten Sprache, die Häufigkeit, mit der sie verwendet wird und grammatikalische Genauigkeit. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist zudem in welchem Alter die zweite Sprache erworben wird.

Die Gehirne von Kleinkindern sind extrem anpassungsfähig

Je früher eine zweite Sprache erlernt wird, desto optimaler ist das Ergebnis. Der Grund dafür ist, dass das Gehirn von Kleinkindern sehr plastisch, oder formbar, ist und sich daher leicht verändert, je nachdem welche kognitiven Funktionen am meisten verwendet werden. Wenn Kinder zweisprachig aufwachsen passt sich deren Gehirn schnell daran an, zwei Sprachen zu sprechen, indem es die Netzwerke und Verbindungen formt, die es ermöglichen, mit den erhöhten kognitiven Anforderungen fertig zu werden. Im Gegensatz dazu ist das erwachsene Gehirn relativ stabil und benötigt mehr Input oder Training, um seine Struktur oder Funktion zu verändern. Diese Eigenschaft des Gehirns ist der Grund, warum es so viel einfacher ist, eine Sprache fließend zu sprechen, wenn sie in einem sehr jungen Alter erlernt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es aussichtslos ist, im Erwachsenenalter eine neue Sprache zu lernen. Veränderungen des Gehirns und die damit verbundenen kognitiven Vorteile wurden auch bei konsekutiven Zweisprachigen, die ihre zweite Sprache erst im Erwachsenenalter erwarben, festgestellt. Es erfordert nur ein bisschen mehr Zeit und Aufwand. Aber jüngste Forschungsresultate legen nahe, dass sich diese Bemühungen später im Leben wirklich auszahlen.

Das Erlernen neuer Sprachen hält das Gehirn fit

Die kognitiven Vorteile der Zweisprachigkeit sind bei gesunden Gehirnen gewöhnlich sehr subtil und im Alltag oft nicht wahrnehmbar. Die Auswirkungen sind drastischer wenn Aufgaben entweder sehr schwierig sind oder wenn die Hirnfunktion gestört ist oder abnimmt, wie dies beispielsweise bei verschiedenen Demenzarten der Fall ist. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass Zweisprachigkeit den Ausbruch von Alzheimer um bis zu vier Jahre verzögern kann. Obwohl Hirnschäden von gleichaltrigen ein- und zweisprachigen Alzheimer Patienten im Schnitt das gleiche Ausmaß haben, können Gehirne von Zweisprachigen damit besser umgehen. Die Theorie dahinter: Zweisprachigkeit stattet das Gehirn mit besseren Kompensationsmechanismen aus, da das Gehirn gewohnt ist, mit hohen kognitiven Anforderungen umzugehen. Dies ist allerdings nur der Fall wenn beide Sprachen noch gut beherrscht werden. Das fast vergessene Schulfranzösisch hilft hier also leider nicht. Wie genau diese Verbesserung der Kompensationsmechanismen zustande kommt und ob nur die Zweisprachigkeit diese Vorteile bringen kann, bleibt abzuwarten. Zumindest aber ist der Prozess des Lernens einer neuen Sprache eine stimulierende und herausfordernde Aktivität, die dem Gehirn hilft, sein Leben lang fit zu bleiben – zusätzlich zu den unbestreitbaren Vorteilen des weiteren Verstehens neuer Kulturen, einschließlich der eigenen.   

Das Erlernen neuer Sprachen beeinflusst wie wir die Welt wahrnehmen. © Steven Lewis on Unsplash