Martyn Pepperell
Lärmend jenseits der Grenzen

Noah Slee
© Noah Slee

Experimentalmusiker zu sein, heißt kurz gesagt, mit Klang zu experimentieren. Dabei kommt einem zu Gute, wenn man über Einfallsreichtum und Findigkeit verfügt – Eigenschaften, die in Neuseeland oft einfach mit Kurzformen wie “Kiwi Findigkeit” und (in Anspielung auf einen Mehrzweck-Draht zum Zäune-Ziehen) “Number 8 wire” bezeichnet werden. In Bereichen wie Technologie, Wissenschaft, Landwirtschaft und Film und Fernsehen werden experimentelle Ansätze und eigentümliche Erfindertypen gefeiert und auch im kulturellen Mainstream hierzulande bewundert, wohingegen Vertreter der experimentellen und elektronischen Musik trotz einer schon langen Geschichte vor Ort und internationaler Wahrnehmung nur eine Randexistenz führen.

Als Folge davon suchen die Musiker – ob sie nun als Autodidakten zur Musik gekommen sind oder eine akademische Ausbildung genossen haben – aus gutem Grund den Weg nach Übersee, um dort ihr Glück zu finden. In Europa mit so vielen kreativen Köpfen aus aller Welt gehört Berlin zu den beliebtesten Zielen für experimentelle und elektronische Musiker aus Neuseeland, die sich dort für ihre Musik mehr Wahrnehmung und Anerkennung erhoffen. Denn das berühmte deutsche Künstler-Visum ist weiterhin relativ leicht zu bekommen, die Mieten und Lebenshaltungskosten sind so niedrig, dass es sich dort als Künstler leben lässt. Wichtiger als alles andere allerdings sind das Verständnis, die Anerkennung und die Sympathie, die den Musikern dort entgegengebracht werden – anders als daheim zumeist.

Olly Perryman, der in Berlin als Produzent für elektronische Musik und als DJ Fis lebt und arbeitet, ist der gegenwärtig möglicherweise bekannteste neuseeländische Experimentalmusiker, der jenseits der Grenzen lärmend auf sich aufmerksam macht. In den letzten drei Jahren hat er für die prestigereichen Elektrolabel Loopy and Subtext zwei Soloalben aufgenommen sowie ein Gemeinschaftsprojekt mit dem bahnbrechenden Taonga pūoro-Spieler Rob Thorne, der diese traditionellen Māori-Instrumente beherrscht. Für Perryman war die Ankunft in Berlin ein kreativer Segen. “Für Künstler ist das Arbeiten in Neuseeland wie ein Höhentraining. Es ist wie Bergfahren auf dem kleinsten Ritzel, und zwar nicht nur ökonomisch. Es geht um die Offenheit. Ich weiß auch nicht warum, aber Neuseeland ist derzeit nicht wirklich offen für Kunst oder Künstler.“ (Fis, Norient, 2016)


Fis & Rob Thorne performing Fis & Rob Thorne performing | © Sophie Schnell

Audio: Fis & Rob Thorne, Phase Transition



Indem er den Faden der forschenden Impulse von Alice Coltrane’s himmlischen Jazz-Experimenten, Xenakis architektonischen Kompositionen und Autechres verdichteter komplexen Elektronikmusik aufgreift, untersucht seine Musik das Verhältnis zwischen Menschsein, Natur und Technik. Ich bezeichnete die Musik 2015 im Dummy Mag als “eine ganz eigene techno-naturalistische Klangwelt”. Seit dem Umzug nach Berlin hat er in ganz Europa und Nordamerika vor Zuhörern gespielt, die seine Musik dankbar wertschätzen, und erhielt Kompositionsaufträge von renommierten Elektronikmusik-Festivals wie Berlin Atonal und Mutek. Entsprechend wurden seine Aufnahmen und Auftritte in Zeitschriften wie The Wire, Fact Magazine und Resident Advisor gelobt.

 

Audio: Fis, Live at Berlin Atonal (2014)



Ein weiterer Musiker aus unseren Breiten, der zur Zeit in Berlin auf sich aufmerksam macht, ist der tonganesische Singersongwriter und Produzent Tau Manukia, aka Noah Slee. Wo Perrymans Arbeiten die Grenzen der experimentellen Elektromusik austesten, verbindet Manukia innigen polynesischen Soul mit elektronischen Dancemusikstilen wie House und Techno, beeinflusst von den Klangexperimenten von experimentellen Rockbands wie Radiohead.

Manukia begann Mitte der 2000. Jahre als Mitglied der aus Auckland stammenden Pop-Funk-Boyband Spacifx, wandte sich dann von der kommerziellen Musikindustrie ab, ging nach Übersee und verbreiterte seine musikalische Hörerfahrung. Nach einiger Zeit in Australien zog Manukia nach Berlin. Wie für Perryman bedeutet der Umzug, näher am Geschehen zu sein und regelmäßig in ganz Europa aufzutreten. Das wiederum verschaffte ihm Plattenverträge mit Majestic Casual und Wondercore Island, um sein positive aufgenommenes Debutalbum Otherland einzuspielen.


Noah Slee © Noah Slee
 

Audio: Noah Slee, Radar



Mit seinem Umzug nach Deutschland bekam Manukia nicht nur Zugang zum passenden Publikum und Kontakte im Musikgeschäft, er gab ihm auch die Gelegenheit für sein Coming Out, wo er daheim, aufgewachsen in einer christlich polynesischen Familie und Gemeinschaft in Neuseeland und Australien, mit seinem Schwulsein immer hatte ringen müssen. “Ich musste eine Gemeinschaft finden, in der es nicht allein um Musik ging, sondern die auch offen für meine Sexualität ist und mich frei atmen lässt.” (Noah Slee). In Berlin fand er diese Gemeinschaft und einen Ort zum Atmen, den er für sich zu nutzen wusste, so bereits Unterstützung von geschmacksbestimmenden Musikplattformen wie Boiler Room TV und BBC Radio 1xtra fand. Doch die eigentliche Reise liegt noch vor Manukia. “Für mich ist Otherland erst die Spitze des Eisbergs mit Blick auf völlige Freiheit und Offenheit.” (Noah Slee).

So verschieden beide auch sind, Perrymans und Manukias Arbeiten sind zusammengenommen ein Hinweis darauf, dass sich eine Bezeichnung wie “experimentell” mit dem jeweiligen Kontext und Genre verändert. Hat man mit den eigenen Klangexperimenten erst ein internationales Publikum erreicht – sei es, indem man die Grenzen innerhalb eines gegebenen Rahmens austestet, oder sich aber an den extremeren Rändern der Klangerzeugung bewegt –, kann dieses Arbeiten innerhalb eines Bezugssystems unheimlich bereichernd sein. Gegenwärtig – und dies schon seit Jahrzehnten – ist Berlin das ideale Sprungbrett für experimentelle und elektronische Musiker aus Neuseeland, deren internationaler Bekanntheitsgrad immer größer wird. Ein Ort, um lärmend jenseits der Grenzen zu leben und zu arbeiten.
 

Audio: Noah Slee, Told