Physical Dramaturgy
Ein (neuer) Trend?

Jennifer Lacey und Nadia Lauro „Les assistantes“ (2008);
Jennifer Lacey und Nadia Lauro „Les assistantes“ (2008); | Foto: Laurent Philippe

Dramaturgie im zeitgenössischen Tanz ist – positiv gemeint – ein heißes Eisen. Da geht es um die Beteiligung am Entstehen eines Werks: also um Autorschaft und Kollaboration, Austausch und Kritik, Idee und Konzept, Visionen und deren Übersetzung, um Forschung, Entwicklungsprozesse, Arbeit an Strukturen und an Formen. Idealerweise sind Dramaturginnen und Dramaturgen während der Erarbeitung eines Stücks die besten Freunde der Choreografinnen und Choreografen.

Das „gemeinsame Nachdenken, gemeinsame Forschen und gemeinsame Entwerfen“ (Hermann Beil) in einem gerade beim Gegenwartstanz „komplexen Handlungsfeld“ hat sich zu einer „kritischen und diskursiven Praxis“ entwickelt (Susanne Traub). Partikuläre Methoden gibt es viele, aber übergreifende Dramaturgiekonzepte sind selten. Deswegen fällt eine Bezeichnung wie Physical Dramaturgy auf. Dieses Label verwenden der deutsche Choreograf Martin Nachbar und der belgische Autor Jeroen Peeters, um zu beschreiben, wie Dramaturgie anders funktionieren kann.

Bereits 2006 stellten die beiden im Rahmen eines Workshops am Berliner Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) bei Tanz im August unter dem Titel Backtracking Erkenntnisse zum Thema Dramaturgie aus ihrer Zusammenarbeit vor. Es folgten weitere Workshops, etwa 2009 bei Impulstanz in Wien, 2011 im Workspace Brussels oder 2012 am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Im November 2014 veranstaltete das International Dance Artist Service im Tanzhaus Nordrhein-Westfalen/Düsseldorf ein dreitägiges Seminar unter dem Titel Physical Dramaturgy, an dem unter anderen Martin Nachbar, Sandra Noeth und Manolis Tsipos das Feld erschlossen.

Kritisches Bewusstsein

Erklärtes Ziel von Peeters und Nachbar ist es, zu vermitteln, wie Physical Dramaturgy versucht, jenen Bedeutungsraum zu untersuchen und auszureizen, der von Körpern in Bewegung geöffnet wird, und ebenso die verschiedenen Materialien und Ideen, die einen Schaffensprozess „besiedeln“. Dabei wird gezielt das Bewusstsein gegenüber den Grundstrukturen und Kontexten künstlerischer Arbeit stimuliert. Außerdem gelten „Theorie und Praxis, Recherche und Schaffen, Bewegung und Reflexion als sich deckende Aktivitäten“. Ermöglicht werden soll – wie in den Ankündigungen der Workshops zu lesen ist – „ein Ort des Diskurses, an dem kritisches Bewusstsein von Zeit, Raum, Wahrnehmung und der Generierung von Bedeutung“ entstehen kann.

Es geht – sowohl im pädagogischen als auch im konkreten künstlerischen Kontext – um eine Ethik der Zusammenarbeit mit Methoden und Praktiken, die auf einer mehrschichtigen Lektürepraxis aufbauen. Dabei wird dem Begriff des „Materials“ und seiner Organisation im Schaffensprozess besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In einem ausführlichen Essay, der 2010 der Zeitschrift Maska/Ljubljana publiziert wurde, schreibt Jeroen Peeters: „Ich empfinde es als notwendig, die Auffassung davon, was ‚Material‘ bedeutet, auf Quellmaterialien und eine gründliche Lektüre der Analyse von Texten und Bildern auszuweiten.“

Lektüre und Material

Zur Lektüre präzisiert der Autor: „Unsere Übungen nähern sich literarischen und theoretischen Texten auf drei verschiedenen Ebenen: Am Anfang steht die Lektüre des Arguments oder der Erzählung des Texts (wenn nötig, mit Klärung der Begriffe und des diskursiven Kontexts); als zweites folgt eine wörtliche Lektüre mit Fokus auf die verwendete Sprache, besonders die Raum- und Körper-Metaphern; der dritte Schritt ist die physische Lektüre, die die wörtliche Lektüre ins Tänzerische überträgt.“ Die von Physical Dramaturgy angestrebte Schärfe resultiert also aus einem Tiefgang der Lektüre sowohl philosophischer als auch literarischer Texte.

Die Freiheit dieses Methodenkomplexes hingegen entsteht aus einer Heterogenität im Umgang mit dem Material. Peeters pocht einerseits darauf, das Material habe auch eine Berechtigung an sich, andererseits postuliert er: „Das Material steht im Gegensatz zu dem Begriff des „idealen Stücks“, dem Phantasma einer vom Material losgelösten Dramaturgie, der es einzig und allein darum geht, eine Bedeutung von der idealen Sicht eines Außenstehenden her zu projizieren.“ Und zum dritten wird scheinbar „unnotwendigen“ Materialien, die in eine Arbeit Eingang finden, eine Bedeutung zugewiesen, die sich aus den Spezifika des künstlerischen Entstehungsprozesses ergibt. Sichtbar ist das etwa bei Meg Stuarts It’s not funny (2006) oder Jennifer Laceys Les assistantes (2008).

Verantwortung des Publikums

Über die Funktion eines Texts in der dramaturgischen Praxis führt Peeters als Beispiel an, dass er in der Zusammenarbeit mit Nachbar an dessen Stück Repeater über seinen Vater (2007) einen Absatz aus Don DeLillos Roman White Noise als „dramaturgische Landkarte“ vorgeschlagen habe: „Eine Art Readymade, das wir mit dem Großteil des von uns zusammengetragenen und entwickelten Materials in Zusammenhang bringen konnten.“ Dies gelang, weil hier ein Stück Text über ein Vater-Sohn-Verhältnis vorlag, das sich auf jenes zwischen Vater und Sohn im Stück beziehen ließ.

Leider erläutert Jeroen Peeters den immer wieder in den Workshop-Titeln angeführten Begriff des „Backtrackings“ nicht. Das sogenannte Rücksetzverfahren dient in der Algorithmik als Methode der Tiefensuche nach alternativen Lösungen für ein Problem. Etwas unklar bleibt auch das Problem der Adressierung des Publikums, dem die Physical Dramaturgy allerdings zu Recht einen Teil der Verantwortung im Zeitraum der Aufführung zumutet: „All das macht die Zuschauer zu aktiven Mitproduzenten, die ebenfalls den Bedeutungsraum verhandeln und einen Teil der Verantwortung übernehmen, anstatt passiv ein ‚ideales Stück‘ zu konsumieren.“

Raum für Entscheidungen

Insgesamt lässt sich also sagen, dass Physical Dramaturgy eine Methode anbietet, wie mit der wachsenden Komplexität an Zusammenhängen umzugehen ist, in denen sich Autorinnen und Autoren einer choreografischen Arbeit heute orientieren müssen. Eine Methode, die auch in ihren Research-Potenzialen schlüssig ist, in ihrer „konzeptuellen Landschaft“ viel Raum für künstlerische Entscheidungen auf jeder ästhetischen Ebene öffnet und zu einer „Tiefensuche“ im Material auffordert.

Hier liegt der politische Aspekt der Physical Dramaturgy: Den Künstlerinnen und Künstlern wird direkt Mut zu grundlegender Recherche zugesprochen und indirekt den über Finanzierungen und Produktionsbedingungen entscheidenden Organisationen die Verpflichtung abverlangt, dies auch zuzulassen. Ob die Aufmerksamkeit, die diesem Vorschlag bisher zugewendet wurde, auch schon der Ansatz zu einem neuen Trend ist, muss sich noch zeigen.

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