Future Perfect
Kreativität nach der Katastrophe

einige Menschen verschiedenen Alters auf einer Veranstaltung
© CC BY-NC-ND

Nach dem verheerenden Erdbeben in Christchurch hauchen diverse soziale und kreative Projekte dem von der Katastrophe gezeichneten Straßenbild wieder Leben ein.

Es war an einem Sommermorgen im Jahr 2010, als eine kleine improvisierte Szenerie mitten in der Innenstadt von Christchurch erste Blicke auf sich zog: Wo vormals ein Restaurant stand, das zwei Monate zuvor wie viele andere Gebäude dem 7,1 Mw starken Erdbeben zum Opfer gefallen war, entstand nun aus einem Stück Kunstrasen, Topfpflanzen und einer Kaffeetheke spontan eine Veranstaltungsstätte, in der zwei Wochen lang Musik, Poetry-Abende, Open-Air-Kino und Pétanque angeboten wurde.

„Wir wollten einfach ein paar temporäre Aktionen auf die Beine stellen und dazu die brachliegenden privaten Flächen in einen öffentlichen Raum auf Zeit umfunktionieren“, erklärt Ryan Reynolds, Mitbegründer und Leiter der städtischen Wiederbelebungsinitiative Gap Filler (deutsch: Lückenfüller). Das Ganze sollte ein einmaliges Projekt sein, ein Ausdruck eines umfangreichen Diskurses rund um politisches Theater und sozial ambitionierte Kunst. Sechs Jahre später hinterlässt Gap Filler immer noch markante Spuren in der sozialen und kulturellen Szene der Stadt.

Neues Leben für die Stadt

Am 22. Februar 2011, fünf Monate nach dem ersten Erdbeben, erschütterte ein schwächeres, aber folgenreicheres Beben die Innenstadt. Fast 80% der hier ansässigen Gebäude stürzten ein oder wurden beschädigt, 185 Menschen starben. Der gesamte innerstädtische Bereich glich einem Kriegsgebiet. Ganze Straßenzüge waren abgesperrt, die Fenster waren zerborsten, die noch stehenden Mauern wurden durch Nachbeben erschüttert, und über den Schuttbergen flatterten die Vorhänge im Wind.

Gap Filler begab sich nun ein weiteres Mal auf die Straßen und die nun noch größeren Brachflächen. In den folgenden Monaten und schließlich Jahren haben die vielen temporären Veranstaltungen und Aktionen der Stadt viel neue Energie, Hoffnung und Einfallsreichtum beschert: Auf einer verlassenen Baustelle an einer Straßenecke entstanden eine Büchertauschbörse in einem zweitürigen Gastronomiekühlschrank, ein Minigolfplatz, ein zweiradbetriebenes Kino, Klavierzelte, eine Kegelbahn, ein großer Pizzaofen für die Menschen in der Nachbarschaft, es gab Sporttage und Straßenkunst.

Durch die vielen improvisierten, guerilla-artigen und experimentellen Aktionen wurden örtliche Initiativen, Künstler, Architektinnen, Landbesitzer, Designerinnen und eine Heerschar Freiwillige auf den Plan gerufen, die ein vielfältiges Programm für die Menschen vor Ort auf die Beine stellten. Dadurch wurden nicht nur Sozialkompetenz und Selbstbewusstsein der Bewohner gestärkt und die Wirtschaft wieder angekurbelt, die Menschen haben auch das enorm wichtige Gefühl der Verbundenheit erleben können. Endlich sickerte wieder Leben in die zerrütteten Straßen: Die Initiative Life in Vacant Spaces (Leben in verlassenen Räumen) vermittelte die Nutzung brachliegender Flächen, das von der Architekturhistorikerin Jessica Halliday geleitete FESTA Festival Of Transitional Architecture (Festival für Übergangsarchitektur) ließ auf den Straßen der Stadt einen Karneval aus Licht, Musik und temporären Aktionen entstehen.

Die von Suzanne Vallance, Dozentin für Stadtentwicklung, angeführte Umweltinitiative Greening The Rubble (Geröll zu Grünflächen) errichtete Pocket-Parks (kleine Grünflächen in verlassenen Ecken) und Gärten in den Stadtvierteln. Noch im selben Jahr riefen Reynolds und seine fünf Gap-Filler-Gründungskollegen den Gap Filler Trust ins Leben. Beteiligt waren der Architekt Andrew Just, der Steuerberater Lance Edmonds, der Aktivist für psychische Gesundheit Ciarán Fox, die Schauspielerin und Galeristin Coralie Winn und der früher an der Christchurch Polytechnic und inzwischen beim Ara Institute Canterbury tätige Martin Trusttum. Das erklärte Ziel der Stiftung war die Förderung der kreativen Szene sowie die Schaffung von öffentlicher Aufmerksamkeit und Mitgestaltungsmöglichkeiten durch die zeitweise Umfunktionierung von nicht oder wenig genutzten Flächen.

  • Kunstwerk von Ash Keating "Konkrete Vorschläge auf Beton" © CC BY-NC-ND: Gap Filler

    Kunstwerk von Ash Keating "Konkrete Vorschläge auf Beton".

  • Es braucht keinen Strom: der Büchertauschkühlschrank 1. © (CC BY-NC-ND): Ross Becker

    Es braucht keinen Strom: der Büchertauschkühlschrank 1.

  • Es braucht keinen Strom: der Büchertauschkühlschrank 2. © (CC BY-NC-ND): Ross Becker

    Es braucht keinen Strom: der Büchertauschkühlschrank 2.

  • Platzbedarf für großen Spaß: klein. Der Dance-O-Mat. © (CC BY-NC-ND): Gap Filler

    Platzbedarf für großen Spaß: klein. Der Dance-O-Mat.

  • The Superhero Dance Squad: Der Dance-O-Mat. © (CC BY-NC-ND): Gap Filler

    The Superhero Dance Squad: Der Dance-O-Mat.

  • Der Fairway to Heaven, No. 2. Wer denkt da noch an einen Stairway? © (CC BY-NC-ND): Gap Filler

    Der Fairway to Heaven, No. 2. Wer denkt da noch an einen Stairway?

  • Das Gap-Filler-Team. © (CC BY-NC-ND): Gap Filler

    Das Gap-Filler-Team.

  • Retro-Sport-Aktivitäten auf dem gemeinschaftlichen Rasen „The Commons”. © (CC BY-NC-ND): Raewyn Murray

    Retro-Sport-Aktivitäten auf dem gemeinschaftlichen Rasen „The Commons”.

  • Bewegt euch! Und die Geräte. Im Sound Garden von Gap Filler. © (CC BY-NC-ND): Erica Austin

    Bewegt euch! Und die Geräte. Im Sound Garden von Gap Filler.

  • Auch alte Straßenschilder machen Geräusche - im Sound Garden. © (CC BY-NC-ND): Trent Hiles

    Auch alte Straßenschilder machen Geräusche - im Sound Garden.

  • Rasen für alle, ganz frisch. © (CC BY-NC-ND): Kirsten Wilson

    Rasen für alle, ganz frisch.

Reaktionen der Stadt

2012 haben Designer, Geschäftsleute und Freiwillige an einer Kreuzung in der Innenstadt, die nach dem Abriss eines Hotels nicht mehr in Betrieb war, den Gap Fillers Pallet Pavilion geplant, finanziert und errichtet - eine temporäre Arena aus 3.000 Leih-Paletten. Die große, blaue Musikmuschel wurde schnell zum beliebten Treffpunkt, der auch Platz für Veranstaltungen, Pop-up-Cafés und Märkte bot.

Im selben Jahr wurde auch der Dance-O-Mat ins Leben gerufen: ein Holzboden, eine Lichtanlage und ein Lautsprecher, der an eine münzgesteuerte Waschmaschine mit iPod-Zugang angeschlossen war, genügten, um die Menschen zum Tanzen inmitten von Häuserruinen aufzufordern. Initiativen wie diese haben nicht nur endlich wieder Leben in die zerstörten Straßen gebracht, sondern auch den Willen zur Wiederinstandsetzung der Stadt erheblich verstärkt.

„Über Politik zu reden ist wohl der schlechteste Weg, um tatsächlich politisch etwas zu bewirken“, erklärt Reynolds, „damit bestärkt man nur die bestehenden Haltungen der Menschen. Wie also soll man politisch aktiv werden, ohne dabei das Wort ‚Politik‘ in den Mund zu nehmen? Wir haben herausgefunden, dass man sich am bestem für große Themen einsetzt, indem man sich im kleinen und lokalen Rahmen für eine bestimmte Sache engagiert.“

Veränderung als Kunst

Die Rolle, die Gap Filler innerhalb der wieder neu entstehenden Stadt zuteil wird, vergleicht Reynolds mit der eines gewieften Gauklers, der einer Umbruchsituation mit viel Humor und Engagement begegnet und dabei alle Beteiligten augenzwinkernd auffordert, doch mal eine kritische Haltung einzunehmen.

„In einem urbanen oder politischen Kontext tut Dance-O-Mat genau das gleiche. Die Veranstaltung gibt sich auf den ersten Blick oberflächlich und bietet offenbar nur leichte Unterhaltung. Tatsächlich ermöglicht sie viel mehr als das, nämlich das Erleben einer städtischen Kultur und sozialer Interaktion, die der Besucher woanders schwerlich findet: Hier verhält er sich ganz anders als sonst und erfährt sogar einen tiefergehenden sozialen oder politischen Anspruch. Es geht hier nicht um eine lautstarke Revolution, sondern darum, bestehende Beziehungsmuster zu hinterfragen und zu erweitern.“

Das Projekt stellt darüber hinaus gängige Meinungen zur Relevanz des Kurzfristigen oder des kleinen Rahmens in Frage: „Was heißt eigentlich vorübergehend?“, fragt Reynolds, „der Bücherkühlschrank sollte nur einen Monat lang in Betrieb sein, mittlerweile sind es fünf Jahre. Eine Stadt, von der wir glaubten, dass sie für immer besteht, ist zu 80 Prozent verschwunden. Die Begriffe Temporalität und Zeitweiligkeit sind ein Mittel zum Zweck – es geht darum, das Risiko möglichst gering zu halten und den Appetit aufs Experimentieren zu wecken.“

Neue Gemeinschaften in einer neuen Stadt

Jetzt, wo die Stadt im Wiederaufbau ist und hinter den Gerüsten und Zäunen keine brachliegenden Flächen, sondern neue Bauprojekte zu sehen sind, liegt dieser Appetit immer spürbarer in der Luft. Gap Filler initiiert immer noch kleine Bürgerprojekte – was ein langwieriger Prozess ist, in dem Ideen, Finanzen und soziale Ausrichtung sensibel miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Gleichzeitig bietet die Initiative aber auch Kontaktprogramme für Schulen. Man berät andere Initiativen und Städte in der Frage, wie mehr Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung zu erreichen ist und setzt sich für eine Reform der Vorschriften ein, die die öffentliche Nutzung privater Flächen für Bürgerprojekte regeln. Außerdem bringt sich die Organisation immer öfter in Entscheidungsprozesse um groß angelegte dauerhafte Stadtentwicklungskonzepte ein.

„Wir können uns mit genau diesen Mitsprachemöglichkeiten aktiv an solchen Entscheidungen beteiligen, damit die Menschen spüren, dass in ihrem Sinne gehandelt und ihre persönlichen Wünsche berücksichtigt werden.“

Laut Coralie Winn wird ein solches Engagement gerade in der heutigen Zeit immer wichtiger, da Christchurch gerade aus den Ruinen wieder aufersteht und neue Planungsprozesse die von Experimentierfreude und Zusammengehörigkeit geprägte Atmosphäre zu zerstören drohen. „Andernfalls riskieren wir, dass die Stadt sich eindimensional entwickelt und nicht alle Bevölkerungsgruppen miteinschließt. Die Menschen möchten die besondere Energie, die hier zu spüren war, aufrechterhalten. Wir wünschen uns, dass Gap Filler langfristig die Wünsche und Erwartungen der Einwohner an ihre Stadt mitgestalten kann.“

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