Logistik: DELIVERY GIRLS

Delivery Girls
Delivery Girls
In einem kleinen Haus mitten in Sangam Vihar, einer einkommensschwachen Gegend Süd-Delhis, lebt die 21-jährige Sunita. Mit drei Geschwistern – einem Bruder und zwei Schwestern – teilt sie sich mit den Eltern das Haus, alle Familienmitglieder gehören zur Arbeiterklasse der Stadt. Die gesamte Familie verdient gemeinsam weniger als einhunderttausend Rupien im Jahr.


Vor neun Monaten stieg Sunita bei dem seit erst einem Jahr bestehenden Logistik-Start-Up Even Cargo ein und wurde ein Motorradroller-fahrendes Delivery Girl – in einer in Indien bislang männerdominierten Branche. “Mein Bruder brachte mir das Fahrradfahren bei und der Motorroller war da nur der nächste Schritt!” ruft sie aus, den Helm auf dem Kopf. Zur Hälfte hat sie ihr Bachelorstudium in Kunst an einem der Colleges in Delhi hinter sich und macht nun nach dem Ende der letzten Vorlesung des Tages ihre Ausfahrten mit dem Roller.
 
“Ich wollte finanziell von der Familie unabhängig sein und etwas beisteuern,” sagt sie und erklärt, warum sie im letzten Jahr bei Even Cargo anfing. In hellblauen Jeans und einem blauen T-Shirt lehnt die Einundzwanzigjährige an ihrem abgestellten Scooter, während sie mit mir spricht, ganz selbstbewusst. Sie zeigt mir ein graues T-Shirt mit dem Even Cargo-Logo auf dem Rücken. “Wenn ich Auslieferungen mache, ziehe ich das an.”

Wie Lieferfahrten zu mehr Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit verhelfen

Als sie mit den Lieferfahrten anfing, war Sunita zunächst ziemlich nervös, ganz allein unterwegs zu sein. “Jetzt bin ich viel selbstbewusster, die Angst ist weg,” erzählt sie und lacht darüber, wie sie heute ganz ohne Schwierigkeiten durch die ganze Stadt fährt.
Sie ist eine von einer Schar von Auslieferungsfahrerinnen, die bei Even Cargo angestellt sind, einem Start-Up, das der 28-jährige TISS-Absolvent Yogesh Kumar gründete, um die Gender-Ungleichheit im Land zu bekämpfen. Jede der Motorrollerfahrerinnen verdient im Monat 10000 Rupien, alle sechs machen pro Tag zwischen dreizehn und fünfzehn Lieferfahrten.

Seitdem sie zum ersten Mal auf dem Scooter saß und ihre Auslieferungen machte, haben auch ihre Eltern nicht mehr so viel Angst um die Sicherheit ihrer Tochter, erzählt Sunita. Sie erlaubten ihr mehr Freiheiten, insbesondere, was das Ausgehen allein angeht (in einem Land, in dem die Mobilität von Frauen durch die patriachalen Strukturen stark eingeschränkt ist).

Geschichten von Unternehmergeist und Gleichstellung

“Frauen haben in diesem Land keinen Zugang zu öffentlichen Orten. Das ist ein beklagenswerter Umstand, der endlich publik werden muss,” sagt Yogesh Kumar und nennt damit den Grund, warum er sein Start-Up-Unternehmen gründete. Alle Fahrerinnen, die bei Even Cargo arbeiten, sind zwischen 19 und 24 Jahre alt und stammen aus wirtschaftlich schlechter gestellten Familien. Yogeshs erste Aufgabe? Ihnen beizubringen, wie man Motorroller fährt.
 
  • Helmtragendes, Scooterfahrendes Delivery Girl Sunita © Rhea Almeida

    Helmtragendes, Scooterfahrendes Delivery Girl Sunita

  • Sunita auf ihrem Auslieferungs-Scooter © Rhea Almeida

    Sunita auf ihrem Auslieferungs-Scooter

  • Sunita liefert ein FlyRobe Paket © Rhea Almeida

    Sunita liefert ein FlyRobe Paket

  • Sunita (Mitte) mit ihren Kolleginnen © Rhea Almeida

    Sunita (Mitte) mit ihren Kolleginnen

Nach der Firmengründung bekamen 100 Frauen Fahrstunden – in Zusammenarbeit mit der Verkehrspolizei von Delhi und mit Unterstützung von Honda, die die Scooter und die Fahrausbildung im Rahmen ihres Sozialprogramms spendeten. Nur etwas zehn Prozent dieser hundert Frauen schlossen alle vier Ausbildungsteile erfolgreich ab und wurden fest angestellt. 

Die hohe Abbrecherquote erklärt sich aufgrund des Widerstands auf Seiten ihrer Familien, durch Hochzeiten oder fehlende Unterstützung. “Einige Familien waren gegen mehr Selbstständigkeit der Frauen, so dass diese ausstiegen, andere heirateten oder bekamen keine Hilfe, um die Ausbildung abzuschließen und selbstständig zu arbeiten.“ Yogesh fügt hinzu, jedes einzelne Vorurteil müsse er Interessentin für Interessentin immer wieder neu bekämpfen und entkräften.

In seinem Kampf für mehr Gleichberechtigung war Even Cargo nicht Yogeshs erste Unternehmung. Ein Jahr, bevor er das Unternehmen startete, unternahm er den Versuch, einen Chauffeur-Taxi-Dienst mit Fahrerinnen zu gründen. Doch aus dem wurde nichts. "Ich wollte ein Start-Up gründen, einen Taxi-Dienst mit Fahrerinnen. Doch es war schwer, an Wagen zu kommen. Viele Fahrzeugbesitzer und die Automobilhersteller zeigten kein Vertrauen in die Fahrerinnen und wollten mir ihre Fahrzeuge nicht verleihen. Um Autos zu kaufen, fehlte mir das Kapital. Wir stießen auf viele Schwierigkeiten und scheiterten. Dann änderten wir das Geschäftsmodel und gründeten den Lieferdienst,” erläuert Yogesh.   

Auf der anderen Seite der Tür: Sicherheit für Kundinnen 

Even Cargo arbeitet für Firmen wie FlyRobe, Vajor und Clovia – Unternehmen, die zum Großteil Mode oder Artikel für Frauen vertreiben und deren Kundschaft hauptsächlich aus Frauen besteht. Diese Kooperationen wurden bewusst gewählt, sorgen sie doch für die Sicherheit der Fahrerinnen, wenn sie an die Haustüren kommen.
 
Auch bei den weiblichen Kunden kommt diese Initiative sehr gut an. “Ich fühle mich sicherer, den sonst muss man sich bei Lieferanten, die zur Tür kommen, immer ängstlich fragen, was für eine Typ der unbekannte Mann auf der anderen Seite der Tür wohl sein mag,” erzählt Shambhavi, Kundin von Vajore, die ihre Produkte von Evan Cargo ausfahren lassen. Bislang selbst finanziert, sucht die Firma nach Kapitalgebern, um zu wachsen und weitere Frauen einzustellen. Die Firma erweitere auch den Horizont der Fahrerinnen, fügt Sunita hinzu. „Ich möchte den National Cadet Corps beitreten. Ich will etwas aus meinem Leben machen."

Frauen hinter dem Lenkrad  

Die so genannte Glasdecke, jene Barriere, die den weiteren Aufstieg von Frauen verhindert, ist in den männerdominierten Branchen in Indien nur schwer zu zerschlagen. Shalini Sinha, die indische Repräsentantin von WIEGO, einer globalen Organisation für die Rechte formlos beschäftigter Frauen, weiß, dass „Frauen, die in männerdominierten Branchen Karriere machen wollen, Teil von selbstorganisierten Interessengruppen werden müssen. Der Wandel muss von unten kommen, von dort, wo sich Frauen organisieren und anfangen, selbst Firmen in diesen Branchen zu leiten und zu besitzen."
Sie fügt hinzu, dass eine weitere Herausforderung darin besteht, dass die Stadtplaner wenig für die arbeitenden Frauen tun und Themen wie die Sicherheit von Frauen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Sanitäranlagen und Sozialversicherung vernachlässigt würden. Dennoch gibt es einige Start-Ups, die der Glasdecke erste Risse beibrächten.

Das in Bangalore ansässige Start-Up Jugnoo schickt ebenfalls Delivery Girls auf die Straße, um die Geschlechterungleichheit in diesem Sektor zu verringern. Neben der Logistikbranche hat der Kampf um mehr Gleichberechtigung in männerdominierten Bereichen auch den Transportsektor erreicht. Man sieht bereits ganze Flotten von pinkfarbenen Fahrrad-Taxis von Start-Ups wie Bikxie Pink und Baxi, deren Fahrerinnen Kunden und Kundinnen durch die Straßen von Gurgaon und Delhi chauffieren. Und Firmen wie SheTaxi und WomenCabs nicht zu vergessen, bei denen Frauen hinter dem Steuer sitzen.
Rhea Almeida ist Absolventin des St. Xavier's College in Mumbai und lebt dafür, beim Reisen neue Kulturen und Gemeinschaften kennenzulernen. Über Kunst, Fotografie und Architektur, Menschenrechte, Umwelt- und Gesundheitsthemen schreibt sie für zahlreiche journalistische Plattformen, darunter Homegrown, The Quint und Outlook India Digital.

Übersetzung: Nils Plath
© Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan New Delhi
August 2017

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