Uwe Timm
Uwe Timm wird 1940 in Hamburg geboren.
Bereits als Junge lauscht er aufmerksam den Erzählungen der Matrosen und Berichten der Kriegsheimkehrer. Doch vor allem kann er selbst großartig erzählen, was er seit mehr als dreißig Jahren mit wunderbaren Romanen immer wieder beweist. Daneben ist er auch als Drehbuchschreiber, Hörbuch- und Kinderbuchautor in Erscheinung getreten.
Timm wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt München, dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Carl-Zuckmayer-Medaille.
Viele seiner Werke wurden ins Spanische übersetzt.
Uwe Timm wird 1940 in Hamburg geboren. Er macht eine Kürschnerlehre und besteht 1963 sein Abitur auf dem 2. Bildungsweg. Anschließend studiert er Germanistik und Philosophie in München und Paris. 1971 promoviert er in Philosophie über „Das Problem der Absurdität bei Camus“. Uwe Timm lebt heute in München und Berlin.
Uwe Timm liebt Geschichten. Bereits als Junge lauscht er aufmerksam den Erzählungen der Matrosen und Berichten der Kriegsheimkehrer. Doch vor allem kann er selbst großartig erzählen, was er seit mehr als dreißig Jahren mit wunderbaren Romanen immer wieder beweist. Daneben ist er auch als Drehbuchschreiber, Hörbuch- und Kinderbuchautor in Erscheinung getreten.
Uwe Timm beginnt 1971 als politischer Lyriker, geprägt von den Ideen der 68er-Studentenbewegung. Diese Jahre haben den Autor immer wieder beschäftigt. Seine Romane Heißer Sommer (1974), Kerbels Flucht (1980) und Rot (2001) stehen für die Auseinandersetzung mit dieser Zeit. In der Erzählung Der Freund und der Fremde (2005) arbeitet er seine Freundschaft zu Benno Ohnesorg auf, der 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs von einem Polizisten erschossen wurde. Immer wieder spielen politische und gesellschaftliche Fragestellungen eine wichtige Rolle in seinen Romanen. In Der Schlangenbaum (1986) geht es um das Engagement deutscher Unternehmen in Südamerika, in Morenga (1978) um die postkoloniale Vergangenheit Deutschlands und in Kopfjäger (1991) um Wirtschaftsbetrug in unserer Gesellschaft. Mit Am Beispiel meines Bruders (2003) versucht der Autor, die Beweggründe seines älteren Bruders zu erklären, in die SS einzutreten. Mit diesem Buch eröffnet Uwe Timm eine neue Debatte zur deutschen Erinnerungskultur. Neben seinen Romanen, die nicht moralisierend wirken, sondern auf unterhaltsame Weise aufklären, entstehen jedoch auch Geschichten „aus der Lust heraus, spielerisch die Welt umzubauen, damit etwas Neues, so noch nicht Dagewesenes entsteht“.
Sein Roman Vogelweide (2013) handelt von der Liebe zwischen zwei Menschen, die in ihrer jeweiligen Beziehung eigentlich glücklich sind und sich doch nach einem anderen Leben sehnen.
Uwe Timm wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt München (1989), dem großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2001) und der Carl-Zuckmayer-Medaille (2012).
Copyright: Goethe-Institut Barcelona
Text: Ilka Haederle
Uwe Timm liebt Geschichten. Bereits als Junge lauscht er aufmerksam den Erzählungen der Matrosen und Berichten der Kriegsheimkehrer. Doch vor allem kann er selbst großartig erzählen, was er seit mehr als dreißig Jahren mit wunderbaren Romanen immer wieder beweist. Daneben ist er auch als Drehbuchschreiber, Hörbuch- und Kinderbuchautor in Erscheinung getreten.
Uwe Timm beginnt 1971 als politischer Lyriker, geprägt von den Ideen der 68er-Studentenbewegung. Diese Jahre haben den Autor immer wieder beschäftigt. Seine Romane Heißer Sommer (1974), Kerbels Flucht (1980) und Rot (2001) stehen für die Auseinandersetzung mit dieser Zeit. In der Erzählung Der Freund und der Fremde (2005) arbeitet er seine Freundschaft zu Benno Ohnesorg auf, der 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs von einem Polizisten erschossen wurde. Immer wieder spielen politische und gesellschaftliche Fragestellungen eine wichtige Rolle in seinen Romanen. In Der Schlangenbaum (1986) geht es um das Engagement deutscher Unternehmen in Südamerika, in Morenga (1978) um die postkoloniale Vergangenheit Deutschlands und in Kopfjäger (1991) um Wirtschaftsbetrug in unserer Gesellschaft. Mit Am Beispiel meines Bruders (2003) versucht der Autor, die Beweggründe seines älteren Bruders zu erklären, in die SS einzutreten. Mit diesem Buch eröffnet Uwe Timm eine neue Debatte zur deutschen Erinnerungskultur. Neben seinen Romanen, die nicht moralisierend wirken, sondern auf unterhaltsame Weise aufklären, entstehen jedoch auch Geschichten „aus der Lust heraus, spielerisch die Welt umzubauen, damit etwas Neues, so noch nicht Dagewesenes entsteht“.
Sein Roman Vogelweide (2013) handelt von der Liebe zwischen zwei Menschen, die in ihrer jeweiligen Beziehung eigentlich glücklich sind und sich doch nach einem anderen Leben sehnen.
Uwe Timm wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis der Stadt München (1989), dem großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2001) und der Carl-Zuckmayer-Medaille (2012).
Copyright: Goethe-Institut Barcelona
Text: Ilka Haederle
ÜBERSETZT INS SPANISCHE
Tras la sombra de mi hermano
Übersetzt von Carles Andreu Saburit
Destino, Madrid 2007
El hombre del velocípedo
Übersetzt von Eduardo Knörr Argote
Amaranto Editores, Madrid 2006
El árbol de la serpiente
Übersetzt von José Aníbal Campos González
Editorial Arte y Literatura, La Habana 2004
La invención de la salchicha al curry
Übersetzt von José Pinués
Ed. Akal, Madrid 2003
La noche de San Juan
Übersetzt von Cristina García Ohlring
Alfaguara, Madrid 2001
El tesoro de Pagensand
Übersetzt von Carlos Fortea Gil
Anaya, Madrid 1999
El ratón del tren
Übersetzt von Mon Elsa Alfonso
Alfaguara, Madrid 1986
IN DEUTSCHER SPRACHE
Romane
Vogelweide
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
Freitisch
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
Halbschatten
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
Der Freund und der Fremde
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005
Am Beispiel meines Bruders
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003
Rot
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001
Johannisnacht
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
Kopfjäger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991
Der Schlangenbaum
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989
Kerbels Flucht
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1980
Morenga
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1978
Heißer Sommer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974
Essays
Am Beispiel eines Lebens
Eine Sonderausgabe autobiographischer Schriften zum
70. Geburtstag von Uwe Timm
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt
Frankfurter Poetikvorlesungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
Gesammelte Schriften
Veröffentlichungen von 1955 bis 2002
Espero, Neu Wulmstorf 2002
Was ist eigentlich Faschismus?
Edition Anares, 1997
Erzählen und kein Ende
Versuch zu einer Ästhetik des Alltags
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993
Erzählungen
Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit.
Biografie eines unbequemen Literaten
Oppo-Verlag, Berlin 2007
Nicht morgen, nicht gestern
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999
Die Entdeckung der Currywurst
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993
Vogel, friß die Feige nicht: Römische Aufzeichnungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989
Der Mann auf dem Hochrad
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1984
Drehbücher
Eine Handvoll Gras
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000
Jugendbücher
Der Schatz auf Pagensand
Eine wahrhaft abenteuerliche Geschichte
Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1995
Rennschwein Rudi Rüssel
Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1989
Die Pirateninsel
Benziger, Zürich 1983
Tras la sombra de mi hermano
Übersetzt von Carles Andreu Saburit
Destino, Madrid 2007
El hombre del velocípedo
Übersetzt von Eduardo Knörr Argote
Amaranto Editores, Madrid 2006
El árbol de la serpiente
Übersetzt von José Aníbal Campos González
Editorial Arte y Literatura, La Habana 2004
La invención de la salchicha al curry
Übersetzt von José Pinués
Ed. Akal, Madrid 2003
La noche de San Juan
Übersetzt von Cristina García Ohlring
Alfaguara, Madrid 2001
El tesoro de Pagensand
Übersetzt von Carlos Fortea Gil
Anaya, Madrid 1999
El ratón del tren
Übersetzt von Mon Elsa Alfonso
Alfaguara, Madrid 1986
IN DEUTSCHER SPRACHE
Romane
Vogelweide
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013
Freitisch
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
Halbschatten
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
Der Freund und der Fremde
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005
Am Beispiel meines Bruders
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003
Rot
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001
Johannisnacht
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
Kopfjäger
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991
Der Schlangenbaum
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989
Kerbels Flucht
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1980
Morenga
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1978
Heißer Sommer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974
Essays
Am Beispiel eines Lebens
Eine Sonderausgabe autobiographischer Schriften zum
70. Geburtstag von Uwe Timm
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010
Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt
Frankfurter Poetikvorlesungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
Gesammelte Schriften
Veröffentlichungen von 1955 bis 2002
Espero, Neu Wulmstorf 2002
Was ist eigentlich Faschismus?
Edition Anares, 1997
Erzählen und kein Ende
Versuch zu einer Ästhetik des Alltags
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993
Erzählungen
Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit.
Biografie eines unbequemen Literaten
Oppo-Verlag, Berlin 2007
Nicht morgen, nicht gestern
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999
Die Entdeckung der Currywurst
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993
Vogel, friß die Feige nicht: Römische Aufzeichnungen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989
Der Mann auf dem Hochrad
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1984
Drehbücher
Eine Handvoll Gras
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000
Jugendbücher
Der Schatz auf Pagensand
Eine wahrhaft abenteuerliche Geschichte
Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1995
Rennschwein Rudi Rüssel
Nagel & Kimche, Zürich/Frauenfeld 1989
Die Pirateninsel
Benziger, Zürich 1983
Geboren am 30. März 1940 in Hamburg
Kürschnerlehre in Hamburg; | |
Besuch des Braunschweigkollegs, Abitur; | |
Studium der Germanistik in München und Paris | |
1967 - 1968 | Mitglied im sozialistischen deutschen |
Studentenbund (SDS) | |
1971 | Promotion in Philosophie |
1972 - 1982 | Mitherausgeber der Autoren-Edition |
1979 | Literaturpreis der Stadt Bremen |
1981 - 1983 | Aufenthalt in Rom |
1989 | Förderpreis Literatur der Landeshauptstadt |
München | |
1990 | Deutscher Jugendliteraturpreis |
1996 | Bayerischer Filmpreis (Kinderfilmpreis) für |
Rennschwein Rudi Rüssel | |
2001 | Tukan-Preis; |
Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie | |
der Schönen Künste | |
2002 | Literaturpreis der Landeshauptstadt München; |
2003 | Schubart-Literaturpreis; |
Erik-Reger-Preis | |
2006 | Jakob-Wassermann-Literaturpreis |
2009 | Heinrich-Böll-Preis; |
Heinrich-Heine-Gastdozentur | |
2012 | Carl-Zuckmayer-Medaille; |
2013 | Kultureller Ehrenpreis der Landeshauptstadt |
München | |
lebt in Berlin und München |
Napoleons Feldbett (aus: Johannisnacht)
Die Geschichte beginnt genaugenommen damit, daß ich keinen Anfang finden konnte. Ich saß am Schreibtisch und grübelte, lief durch die Stadt, fing wieder das Rauchen an, Zigarren, in der Hoffnung, so, eingehüllt in den Rauch, würde mir der richtige, ganz und gar notwendige Anfang für eine Geschichte einfallen. Es half nichts, ich kam nicht ins Schreiben, dieser erste, alles entscheidende Satz wollte sich einfach nicht einstellen. Nachts stand ich am Fenster und beobachtete eine Frau im gegenüberliegenden Haus, die dort vor kurzem eingezogen war und ihre Männerbesuche in der hellerleuchteten Wohnung empfing. Ich versuchte, auch darüber zu schreiben: Ein Mann, der eine Frau beobachtet, von der er annimmt, sie wisse, daß er sie beobachtet. Aber nach wenigen Seiten brach ich die Arbeit wieder ab. Ich fuhr in ein Nordseebad und lief im Aprilsturm am Strand entlang, den Kopf angefüllt mit dem Brausen der Brandung, dem Kreischen der Möwen und den Klagen des Hotelbesitzers, dessen einziger Gast ich war. Nach vier Tagen flüchtete ich wieder an meinen Schreibtisch. Ich hatte mir ein Schachprogramm gekauft und spielte am Notebook die Partien der letzten Weltmeisterschaft von Kasparow nach. Am vierten Tag - ich war immer noch nicht über die Eröffnungszüge der ersten Partie hinaus - klingelte nachmittags das Telefon. Der Redakteur einer Zeitschrift fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, etwas über die Kartoffel zu schreiben: Peru-Preußen-Connection. Die Kartoffel und die deutsche Mentalität. Und natürlich persönliche Kartoffel-vorlieben. Rezepte. Bratkartoffelverhältnisse. Er lachte. Sie interessieren sich doch für Alltagsgeschichten. Elf bis zwölf Seiten, da können Sie ausholen.
Ich sagte, ich sei momentan in eine andere Arbeit vertieft und hätte daher keine Zeit. Tatsächlich grübelte ich gerade über eine Schachvariante, die den sonderbaren Namen "der Baum" trug. Nach dem Anruf versuchte ich, mich wieder auf die Partie zu konzentrieren, mußte aber an einen Onkel denken. Dieser Onkel Heinz konnte nämlich Kartoffelsorten schmecken, und zwar auch dann, wenn sie schon gekocht oder gebraten waren. Im Sterben hatte er, nach tagelangem Schweigen, etwas Merkwürdiges gesagt: roter Baum. Niemand wußte, was er damit gemeint haben könnte. Meine Mutter vermutete, es sei eine Kartoffelsorte. In der Familie, zumindest bei meinem Vater, galt der Onkel als faul, ein Drückeberger und Versager, der sein Leben rauchend auf dem Kanapee verbrachte. Das ist denn auch in meiner Erinnerung das deutlichste Bild: Onkel Heinz liegt in der Küche auf einem Sofa, den Kopf, durch ein Kissen abgepolstert, auf der Armlehne. Er raucht. Er konnte wunderbare Kringel rauchen. Wenn ich ihn darum bat, hauchte er eine Kette von drei Kringeln. An einem Sonntag, kurz nach dem Krieg, waren er und Tante Hilde bei uns eingeladen. Mein Vater hatte beim Bauern Kartoffeln gehamstert. Und meine Mutter machte jetzt Bratkartoffeln. Der Tisch war gedeckt mit dem restlichen Silber, das noch nicht beim Bauern gegen Lebensmittel getauscht worden war. Alle saßen und warteten. Es duftete nach gebratenen Zwiebeln, sogar nach Speck, denn meine Mutter hatte die Pfanne mit einer Speckschwarte ausgewischt. Es war ein Festessen, auch Frau Scholle und Frau Söhrensen, bei denen wir damals einquartiert waren, saßen am Tisch. Onkel Heinz bekam als erster ein, zwei Bratkartoffeln auf den Teller geschoben. Er kaute vorsichtig, schmeckte, ein Schmecken, wie man es von Weintrinkern kennt, eine sanfte Bewegung des leicht geöffneten Mundes, ein nach innen gerichtetes Horchen. Er zögerte, wiegte den Kopf, nachdenklich, regelrecht grüblerisch, also bekam er noch zwei Scheiben auf den Teller. Nochmals die feinen Kaubewegungen. Der Vater fragte ungeduldig: Na?
Aus: Johannisnacht, S. 9-11
© Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
Die Geschichte beginnt genaugenommen damit, daß ich keinen Anfang finden konnte. Ich saß am Schreibtisch und grübelte, lief durch die Stadt, fing wieder das Rauchen an, Zigarren, in der Hoffnung, so, eingehüllt in den Rauch, würde mir der richtige, ganz und gar notwendige Anfang für eine Geschichte einfallen. Es half nichts, ich kam nicht ins Schreiben, dieser erste, alles entscheidende Satz wollte sich einfach nicht einstellen. Nachts stand ich am Fenster und beobachtete eine Frau im gegenüberliegenden Haus, die dort vor kurzem eingezogen war und ihre Männerbesuche in der hellerleuchteten Wohnung empfing. Ich versuchte, auch darüber zu schreiben: Ein Mann, der eine Frau beobachtet, von der er annimmt, sie wisse, daß er sie beobachtet. Aber nach wenigen Seiten brach ich die Arbeit wieder ab. Ich fuhr in ein Nordseebad und lief im Aprilsturm am Strand entlang, den Kopf angefüllt mit dem Brausen der Brandung, dem Kreischen der Möwen und den Klagen des Hotelbesitzers, dessen einziger Gast ich war. Nach vier Tagen flüchtete ich wieder an meinen Schreibtisch. Ich hatte mir ein Schachprogramm gekauft und spielte am Notebook die Partien der letzten Weltmeisterschaft von Kasparow nach. Am vierten Tag - ich war immer noch nicht über die Eröffnungszüge der ersten Partie hinaus - klingelte nachmittags das Telefon. Der Redakteur einer Zeitschrift fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, etwas über die Kartoffel zu schreiben: Peru-Preußen-Connection. Die Kartoffel und die deutsche Mentalität. Und natürlich persönliche Kartoffel-vorlieben. Rezepte. Bratkartoffelverhältnisse. Er lachte. Sie interessieren sich doch für Alltagsgeschichten. Elf bis zwölf Seiten, da können Sie ausholen.
Ich sagte, ich sei momentan in eine andere Arbeit vertieft und hätte daher keine Zeit. Tatsächlich grübelte ich gerade über eine Schachvariante, die den sonderbaren Namen "der Baum" trug. Nach dem Anruf versuchte ich, mich wieder auf die Partie zu konzentrieren, mußte aber an einen Onkel denken. Dieser Onkel Heinz konnte nämlich Kartoffelsorten schmecken, und zwar auch dann, wenn sie schon gekocht oder gebraten waren. Im Sterben hatte er, nach tagelangem Schweigen, etwas Merkwürdiges gesagt: roter Baum. Niemand wußte, was er damit gemeint haben könnte. Meine Mutter vermutete, es sei eine Kartoffelsorte. In der Familie, zumindest bei meinem Vater, galt der Onkel als faul, ein Drückeberger und Versager, der sein Leben rauchend auf dem Kanapee verbrachte. Das ist denn auch in meiner Erinnerung das deutlichste Bild: Onkel Heinz liegt in der Küche auf einem Sofa, den Kopf, durch ein Kissen abgepolstert, auf der Armlehne. Er raucht. Er konnte wunderbare Kringel rauchen. Wenn ich ihn darum bat, hauchte er eine Kette von drei Kringeln. An einem Sonntag, kurz nach dem Krieg, waren er und Tante Hilde bei uns eingeladen. Mein Vater hatte beim Bauern Kartoffeln gehamstert. Und meine Mutter machte jetzt Bratkartoffeln. Der Tisch war gedeckt mit dem restlichen Silber, das noch nicht beim Bauern gegen Lebensmittel getauscht worden war. Alle saßen und warteten. Es duftete nach gebratenen Zwiebeln, sogar nach Speck, denn meine Mutter hatte die Pfanne mit einer Speckschwarte ausgewischt. Es war ein Festessen, auch Frau Scholle und Frau Söhrensen, bei denen wir damals einquartiert waren, saßen am Tisch. Onkel Heinz bekam als erster ein, zwei Bratkartoffeln auf den Teller geschoben. Er kaute vorsichtig, schmeckte, ein Schmecken, wie man es von Weintrinkern kennt, eine sanfte Bewegung des leicht geöffneten Mundes, ein nach innen gerichtetes Horchen. Er zögerte, wiegte den Kopf, nachdenklich, regelrecht grüblerisch, also bekam er noch zwei Scheiben auf den Teller. Nochmals die feinen Kaubewegungen. Der Vater fragte ungeduldig: Na?
Aus: Johannisnacht, S. 9-11
© Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996
Am Beispiel meines Bruders
Selten ist das immer noch heikelste aller deutschen Themen – die Frage nach der Verstrickung von Angehörigen der eigenen Familie in den Nationalsozialismus – so persönlich und doch diskret, so lakonisch und zugleich anrührend behandelt worden. Der Verzicht des Erzählers auf alles Manifesthafte oder Sensationelle beeindruckt ebenso wie seine Courage, Verschwiegenes einzukreisen und ans Licht zu holen, aus einer Haltung heraus, die weder anklagt noch beschönigt. Am Beispiel meines Bruders ist ein Exempel dafür, wie die sogenannte Vergangenheitsbewältigung aus dem Klischee heraustreten und zur literarischen Kunstform werden kann.
Ann-Britt Gerecke, Litrix 2004
Rot
Uwe Timm lässt in einem traditionell und souverän erzählten Roman ein Panorama der jüngsten deutschen Geschichte entstehen. Er erzählt von den Irrtümern und Hoffnungen der 68er, vom ekelhaften Jargon der Bewegung ebenso wie von heiteren jugendlichen Ausschweifungen, die vor das Fabriktor führen. […] Die Gespenster der revolutionären Zeit suchen den Helden leibhaftig heim. Darum haben wir es hier mit einem toten Erzähler zu tun. Im Augenblick des Todes lassen wir unser Leben angeblich noch einmal Revue passieren. Uwe Timms Protagonist reist auf diese Weise noch einmal durch ein halbes Jahrhundert.
Manuela Reichart, Süddeutsche Zeitung 2001
Johannisnacht
Wirklich ein Glücksfall, diese Johannisnacht mit ihren unbeschwert-intelligenten Reflexionen über das deutsche Wesen, die genau den Witz und erotischen Biß aufweisen, den man bei deutschen Literaten so selten antrifft.
Thomas Linden, Kölnische Rundschau 1996
Selten ist das immer noch heikelste aller deutschen Themen – die Frage nach der Verstrickung von Angehörigen der eigenen Familie in den Nationalsozialismus – so persönlich und doch diskret, so lakonisch und zugleich anrührend behandelt worden. Der Verzicht des Erzählers auf alles Manifesthafte oder Sensationelle beeindruckt ebenso wie seine Courage, Verschwiegenes einzukreisen und ans Licht zu holen, aus einer Haltung heraus, die weder anklagt noch beschönigt. Am Beispiel meines Bruders ist ein Exempel dafür, wie die sogenannte Vergangenheitsbewältigung aus dem Klischee heraustreten und zur literarischen Kunstform werden kann.
Ann-Britt Gerecke, Litrix 2004
Rot
Uwe Timm lässt in einem traditionell und souverän erzählten Roman ein Panorama der jüngsten deutschen Geschichte entstehen. Er erzählt von den Irrtümern und Hoffnungen der 68er, vom ekelhaften Jargon der Bewegung ebenso wie von heiteren jugendlichen Ausschweifungen, die vor das Fabriktor führen. […] Die Gespenster der revolutionären Zeit suchen den Helden leibhaftig heim. Darum haben wir es hier mit einem toten Erzähler zu tun. Im Augenblick des Todes lassen wir unser Leben angeblich noch einmal Revue passieren. Uwe Timms Protagonist reist auf diese Weise noch einmal durch ein halbes Jahrhundert.
Manuela Reichart, Süddeutsche Zeitung 2001
Johannisnacht
Wirklich ein Glücksfall, diese Johannisnacht mit ihren unbeschwert-intelligenten Reflexionen über das deutsche Wesen, die genau den Witz und erotischen Biß aufweisen, den man bei deutschen Literaten so selten antrifft.
Thomas Linden, Kölnische Rundschau 1996