Romandebüt der Musikerin Sophie Hunger
Eine Freundschaft wie ein Liebeslied
Sophie Hunger tourt schon lange als erfolgreiche Musikerin durch die Welt. Jetzt hat sie ihren ersten Roman geschrieben – über eine innige Freundschaft, getragen von überbordender Liebe zur Musik. Und über ein Unglück, das unausweichlich scheint.
Von Marit Borcherding
Sophie Hunger: Ihre Mutter ist die schweizerische Juristin und Politikerin Myrtha Welti-Hunger, ihr Vater der Diplomat Philippe Welti. Der Großvater: Reporter, Autor, Schauspieler und Regisseur. Ständige Ortwechsel – Bern, London, Bonn, Zürich – prägten ihre Kindheit, die angesichts dieser familiären Gegebenheiten keine gewöhnliche war.
Vom Song zum Roman
Die Musikbegeisterung der Eltern ging über auf die Tochter: 2008 gelang Sophie Hunger – heute brilliert sie als Sängerin, Musikerin, Songwriterin, Filmkomponistin – der Durchbruch mit dem Album Monday’s Ghost. Daraus stammt der erfolgreiche Titel Walzer für niemand. Und wie dieser Song heißt nun auch Sophie Hungers Romandebüt – mit Absicht: „Die Idee zu Walzer für Niemand kam mir vor 20 Jahren, sie musste aber erst verlebt werden, um davon zu berichten“, erzählt die Künstlerin in einem Interview. Das Schreiben erfordere viel Distanz – sie hätte so lange gebraucht, um diese Distanz aufzubringen, um Platz zu schaffen für die Worte. „Und jetzt war es einfach reif“, bekräftigt sie an anderer Stelle.Der eigenwillige, eigenartige Coming-of-Age-Roman beginnt mit einem Ende. Und mit einem Anfang – der Geburt der Erzählerin: „Als der letzte Ton im Bataclan verstummt und vereinzelte Gestalten aus dem Dunkel erkennbar wurden, hörte ich auf einmal den Klang der Zange einer lange zurückliegenden Nacht, da man mein verkeiltes Köpflein aus dem aufgespannten Beckenboden meiner Mutter gezogen hatte … Das Erschrecken, mit dem alles begann, wo es wohl hingeht?“
Zusammen – getrennt
Das wissen die Erzählerin und ihr bester Freund Niemand noch nicht, als sie – Diplomatenkinder, die sie sind – von England in die Schweiz und später woandershin verbracht werden. Die Konstanten in ihrem unsteten Leben: der Plattenspieler auf dem Wohnzimmer-Sideboard, die elterliche Plattensammlung, die entgrenzende Erfahrung beim Hören von Musik: „Etwas bewegte sich, alles wurde anders, wir wurden andere. Die Töne spülten ganze Landschaften an, sublime Bühnenbilder … , nur um wenige Momente später jeden Hinweis auf sich selbst unwiderruflich zu verschlucken.“ Die Musik umfängt sie, hüllt sie ein, schweißt sie zusammen, sie bedürfen keiner Sprache – im Gegenteil: „Überhaupt mochten wir Sprache als Mittel der Denunziation nicht. Wir mochten sie nur in ihrer nebulösen, traumwandlerischen Form. … Es störte uns nicht, wenn wir etwas nicht auf den Punkt brachten.“Die Zeit bleibt nicht stehen. Die Erzählerin und Niemand – der im Roman immer als Du angesprochen wird – entfernen sich voneinander: Sie textet Lieder, will nach vorne und in die Öffentlichkeit. Er driftet in die Vergangenheit, erforscht immer leidenschaftlicher die Geschichte der Walser, einem widerständigen Schweizer Urvolk, zu deren Nachfahren die Erzählerin gehört. Über den Grund für diese Manie, deren Ergebnisse sich in kurzen, hervorgehobenen Kapiteln im gesamten Buch wiederfinden, kann die Erzählerin nur mutmaßen: „Vielleicht war es der Beginn Deines Kampfes um mich und gleichzeitig das erste Anzeichen für eine Trennung. Wenn mir die Zukunft gehören würde, dann musstest du Herr des Vergangenen sein.“
Allein auf die Bühne
Die Erzählerin entscheidet sich gegen das zerstörerische Potenzial der Grenzen auflösenden Innigkeit zwischen ihr und Niemand. Sie wählt den eigenen Weg, mit eigenen Songs, eigener Musik und reüssiert auf der Bühne. Ein Kraftakt, der an den Überlebenswillen der Walserinnen gemahnt, die Eis, Kälte und Dunkelheit getrotzt haben. Und der die Erzählerin aus der symbiotischen Beziehung mit Niemand herausholt. Dieser wird, wie sie es lange vorausgeahnt hat, im Nichts versinken: „Die Einschlagstelle eines Körpers auf der Wasseroberfläche verursacht konzentrische Wellen, Ringe, die sich noch verteilen, nachdem der Körper längst gesunken und verschwunden ist.“Sinnliche Kraft
Schon die optische Gestaltung von Sophie Hungers Roman ist besonders: Eine federleichte Zeichnung auf pastellfarbenem Einband – wolkenrosa geht über in himmelblau, eingestreute Skizzen zumeist nackter Frauenkörper an der Grenze zur Abstraktion, Ausführungen über die Walserinnen in anderer Schrifttype. All dieses kann für sich stehen und gehört doch zusammen – durchgetaktet und ineinandergreifend wie die Lieder auf einem Album. Passend dazu lauten die Kapitelüberschriften wie die Songtitel der Künstlerin Sophie Hunger. Diese hat sich mit dem Schreiben schwergetan: „Wenn man … einen Akkord spielt, dann hat man sofort eine Atmosphäre. Und beim Schreiben ist es wahnsinnig schwierig, bis man das hinkriegt. Musik ist viel sinnlicher, viel körperlicher auch; Schreiben ist abstrakter.“Mit ihrem Gefühl für Rhythmus und Wortmelodien, mit ihrem Vermögen, genau zu beobachten und immer neue und nicht abgenutzte Bilder und Stimmungen heraufzubeschwören, mit der „traumwandlerischen“ Zeichnung der nicht leicht zu greifenden Figur des Niemand ist Sophie Hunger ein durchaus sinnlicher Freundschafts- und Musik-Roman gelungen – offensiv deklariert als Werk der Fiktion, aber die Parallelen zum Leben der Autorin sind leicht herauszufinden. Diese Uneindeutigkeit ist gewollt: „Literatur ist ein Versteckspiel: Was ist Wirklichkeit und was nicht?“, bekundet Sophie Hunger in dem erwähnten Interview. „Ich freue mich auf alle Missverständnisse und ungeahnten Spiele mit diesen Motiven.“ Ihr Lesepublikum kann sich über ein melancholisch-melodisches Debüt einer unverwechselbaren Musikerin freuen, das wie ein besonderes Lied lange und schillernd nachwirkt.
Sophie Hunger: Walzer für Niemand. Roman
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025. 192 S.
ISBN: 978-3-462-00324-6