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Versuche einer Rückkehr
Einen Blick unter den Teppich riskieren

Fear seeps (Ivana Miloš), monotype, gouache, and pastel on paper, 42 x 18 cm
Fear seeps (Ivana Miloš), monotype, gouache, and pastel on paper, 42 x 18 cm | Bild: © Ivana Miloš

Der Regisseur Nicolai Zeitler lud mich ein, einen Film zu sehen, der ihn beunruhigt hatte. Wo und wie kann man diese alptraumhaften Bilder sehen und diskutieren? Wir fanden unser eigenes Kino, das die Imagination uns zur Verfügung stellte. Ein Gespräch zwischen Angst und Traum, zwischen Sichtbarem und Abjekt, zwischen der Beunruhigung, die diese Kinoerfahrung auslösen kann, und dem Reiz des Teilens.

Von Carlos Natálio

In unserem E-Mail-Austausch im Vorfeld unseres ersten Treffens im Kino fragte mich der junge deutsche Regisseur Nicolai Zeitler, ob er nicht einen anderen Film für unseren gemeinsamen Kinobesuch vorschlagen solle. Zunächst verstand ich nicht, warum er das fragte. Ich hatte den Film, den er vorgeschlagen hatte, noch nicht recherchiert und sagte ihm deshalb, dass das nicht nötig sei. Erst als wir nach der Filmaufführung – völlig verstört und verschwitzt vor Nervosität – das Kino verließen, konnte ich seine Bedenken tatsächlich nachvollziehen. Dies war einer dieser Filme, die man nicht zeigte. Der Film ist gewalttätig und schäbig. Seine Veröffentlichung wurde sogar in mehreren Ländern verboten. Es ist ein Film, der sich der Humanität widersetzt und der in der Regel unter den Teppich gekehrt wird. Aber wovon handelt dieser Film eigentlich? Lasst uns einen Blick unter den Teppich riskieren…

Dies war einer dieser Filme, die man nicht zeigte.

Angst (1983), der einzige Film des österreichischen Regisseurs Gerald Kargl – wie könnte man es zulassen, dass jemand, der sich solch einen Albtraum ausgedacht hat, weiterhin Filme dreht und uns seinen Fantasien aussetzt? – beruht auf einer wahren Begebenheit: Nachdem der psychisch gestörte Mörder Werner Kniesek auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird, bricht er in eine Villa ein und ermordet die drei Bewohner*innen auf sadistische Art und Weise.
 
Als ich verstand, welchen Film er vorgeschlagen hatte, sagte ich Nicolai, dass ich die Schwierigkeit dieser Auswahl akzeptiere und dass es wichtig sei, dass wir uns weiterhin „falsche“ Filme ansehen und darüber diskutieren können – Filme, die sich einer Haltung von reflexiver, vorbildlicher und erzieherischer Kunst entziehen.
 
Aber wo kann man diese schrecklichen, missbräuchlichen, plastischen und abstoßenden Bilder sehen? Zeitler hatte an das City Kino München gedacht und schickte mir einige Fotos. Eines der Fotos zeigte einen in goldenes Licht getränkten Saal mit roten Kinosesseln, der von tadelloser Sauberkeit nur so strahlte. Ein anderes Foto zeigte junge lächelnde Menschen, die auf einer Terrasse im Freien saßen und Getränke konsumierten. Die Terrasse befand sich zwischen dem Kino, einem Café und einer Buchhandlung (zumindest glaube ich das). Würde an diesem Ort unser Film gezeigt werden? Ich fragte Nicolai, ob Angst Teil des dortigen Kinoprogramms sein könnte. Dieser meinte daraufhin, dass der Film vielleicht im Rahmen eines Festivals dort gezeigt werden würde, aber dass er nicht Teil des üblichen Programmes sei…

Eingesperrte Filme, geheime Filmsessions

Und damit hatten wir ein Problem: Ein Film ohne Saal, lediglich auf die rechteckige Bildschirmfläche eines Laptops beschränkt. Doch in der Welt des Films und der Vorstellungskraft ist es häufig nur eine Frage der Planänderung; oder des Wechsels der Kameraposition; oder einfach der Veränderung des Blickwinkels, um die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Nicolai, der in der Vergangenheit sogar im Kino gearbeitet hatte, gelang es einen Schlüssel zu einem der Kinosäle des City Kino Münchens zu organisieren. Es war der kleinste Saal. Das war wichtig, denn niemand durfte uns bemerken. Wir baten einen Freund, sich um die Filmvorführung zu kümmern. Wenn wir uns schon auf dem Gebiet des Fetischismus bewegten – und es mangelt heute nicht an Stimmen, die die Vorliebe für die Projektion von Filmrollen als rein nostalgischen und fetischistischen Wunsch nach etwas bezeichnen, das vom Digitalen längst überholt wurde – dann wollten wir auch nicht auf die Sprünge, die Risse und den Ton der Filmprojektion verzichten.

Ich erinnere mich, dass die Vorstellung heimlich stattfand, im Morgengrauen. Obgleich ich nicht einmal rauchte, hatte ich Lust die Rückkehr ins Kino mit einer Zigarette zu feiern. Dieser invasive Akt hatte etwas Übergriffiges, das sich auf das wahnsinnige Handeln des mörderischen Protagonisten reimte. Aber was sind Kinos, wenn nicht Kammer von Traum und Albtraum, in denen Zärtlichkeit und Folter innerhalb weniger Minuten aufeinander folgen können?

Am Ende des Films – als wir uns noch im Saal unterhielten – erzählte mir Nicolai, dass er Angst zum ersten Mal auf seinem Computerbildschirm gesehen habe. Er hatte gehört, dass es sich um den Lieblingsfilm von Gaspar Noé handle (ich fragte mich, wie das möglich war, diesen Film quasi auf dem Nachttisch zu haben) und war deswegen neugierig geworden. Anfangs wollte er nur die erste halbe Stunde des Filmes sehen, doch dann schaute er sich den Film bis zum Ende an. Das war vor einigen Jahren gewesen inmitten einer einsamen Nacht, die von Erstaunen und Schock gekennzeichnet war.

Wir sprachen darüber, wie das Kino, das mit uns kommuniziert (wir sind jenseits von "Gut" und "Böse", von richtigem und falschem Kino), über seine Technologie hinausgeht und den/die Zuschauer*innen in eine Art spirituelle bzw. hypnotische Trance versetzt, in der die Zeit nur so verschwimmt. Es ist diese Transe, durch die uns der Regisseur Gerald Kargl einen Zugang zu der Subjektivität des Psychopathen verschafft, brillant umgesetzt durch einen ganzen Katalog an Zuckungen, Erschütterungen, Blicken und Irrläufen des Schauspielers Erwin Leder. Wir befinden uns stets im Kopf dieses Mannes, der aufgrund einer traumatischen familiären Vergangenheit seinen sexuellen Hunger nach Dominanz und Gewalt befriedigen möchte, indem er über Menschen wie Objekte verfügt.

Pathologien von Macht und Wahn

Wir sprachen über die Pathologien der „Macht“. Von ihr sind jene betroffen (wie Donald Trump), die – im Gegensatz zu authentischen Führungspersönlichkeiten – andere benötigen, die ihre vermeintliche Überlegenheit anerkennen und sich ihnen unterwerfen, um die anhaltende und unüberwindbare Leere in sich zu stillen. Aber wir sprachen auch über die Krankheit des „Wahnsinns“. Von ihr sind diejenigen betroffen, die nur noch in ihrem eigenen Kopf leben und sich nicht mehr auf die Realität im Außen beziehen können. Sie sind in sich selbst gefangen. Und ist nicht genau das auch die Tendenz der sozialen Netzwerke und Technologien, Menschen zu individualisieren, die teils sogar im selben Raum zusammenleben?  Oder die custom made world, die das Leben als gigantisches Buffet mit Freiheiten à la carte präsentiert und dabei schwierige Erfahrungen, Herausforderungen . Reibungen und die Langeweile außer Acht lässt? Wird die zunehmende Privatisierung des Individuums zur Folge haben, dass der/die andere nicht mehr als Lebensgefährte/in oder Mitglied der Gemeinschaft betrachtet wird, sondern vielmehr als Feind*in oder Konkurrent*in? Eine selbsterhaltende Existenz, in der alles verfügbar wird und die auf dem Pfad des Wahnsinns wandelt, des Leben ohne Außen.

Sowohl die Darstellung der inneren Welt als auch die Wahrnehmung des Psychopathen mit den Mitteln des Kinos (in Form von Tönen und Bildern) machen Angst zu einem intelligenten und gleichzeitig verstörenden Film.

Der Psychopath in Angst ist in einem alternativen Universum gefangen, zu dem wir wie auf magische Weise Zugang haben, indem uns eine Stimme entlang seiner Gräueltaten, Wünsche und Triebe führt. Zugleich aber begleitet Gerald Kargls Kamera alle Vorgänge aus der Idee einer Fremdheit der Wahrnehmung heraus. Mal ist sie zu hoch eingestellt – würde es sich um anderes Thema handeln, könnte man sagen, dass es „Gottes Auge“ sei – andere Male zu niedrig. Und sie zittert und rennt und steigt Treppen hinauf, geht durch Gänge, zeigt die Schweißtropfen, das Blut der Toten und das Wasser, mit dem sich der Wahnsinnige nach der begangenen „Sünde“ verzweifelt versucht reinzuwaschen. Sowohl die Darstellung der inneren Welt als auch die Wahrnehmung des Psychopathen mit den Mitteln des Kinos (in Form von Tönen und Bildern) machen Angst zu einem intelligenten und gleichzeitig verstörenden Film.

Nicolai und ich unterhielten uns darüber, dass die Unruhe, die Noé so begeisterte und sicherlich auch Michael Haneke (Funny Games scheint die Idee des überfallenen Hauses als Bühne für Entführung und Folter abzuleiten) viel mit der Fähigkeit zu tun hat, wie der Film den Terror als Spektakel und Unterhaltung ablehnt. Häufig entwickelt das Genre „Horrorfilme“ das, was die Gesellschaft als Bedrohung ansieht, zum Beispiel den Außerirdischen, den/die Kommunist*in (im nordamerikanischen Kino ist das in der Zeit des Kalten Krieges sehr offensichtlich), die/den Nachbar*in, den/die Andersartige*n. Sie haben alle etwas gemeinsam: Die Gefahr kommt von außerhalb. Der, die oder das Andere ist die Bedrohung. Das Grauen bei Angst widersetzt sich diesem Schema. Das Publikum bekommt zu spüren, dass die Bedrohung von der menschlichen Psyche ausgehen kann. Mit anderen Worten: Das Monster sind bzw. könnten wir sein.

Die Angst und den Traum miteinander teilen

In dieser Nacht hatten wir – imaginär – einen Kinosaal des City Kino München für uns allein. Es war nicht nur ein Akt des Eindringens, es war auch ein Raum, der uns für den Film zur Verfügung stand. Ein Kino, das von unserem Wunsch nach gemeinsamer Erfahrung eingenommen wurde; nach etwas, das der fortschreitenden Degradierung des Films zu Inhalten entgegenwirkt. Nicolai und ich tauschten uns über die sehr zitierfähige Aussage von Gilles Deleuze [1] aus, die während eines Interviews (dessen Transkription den Namen „Was ist der schöpferische Akt?" erhielt) fiel: „Wir müssen uns vor den Träumen der anderen hüten, denn wenn wir von den Träumen der anderen erfasst werden, sind wir verloren.“ Wir verstehen intuitiv, dass dieser Prozess des Gefangennehmens am Beginn von Fetischen stehen kann. Bei bloßen Träumer*innen nimmt das Bedürfnis nach Belieben über andere zu verfügen lediglich eine immaterielle Dimension an. Hingegen befinden wir uns bei Menschen, die de facto danach handeln, im Bereich der Kriminalität.

Es ist bemerkenswert, dass diese Reflexion über die Macht der Träume wenige Zeilen nach dem steht, was Deleuze über den „unschuldigen“ Vincente Minelli bemerkt und über seine Idee vom Kino, die besagt, dass diejenigen Menschen von Träumen betroffen sind, die nicht träumen. Und ist nicht genau das der Status eines oder einer Filmzuschauer*in, der oder die physisch und mental die Auswirkungen des Traums eines anderen zu spüren bekommt?

Gerald Kargl arbeitet damit in Angst. Er verweist auf die Quelle der Bedrohung, nämlich das Trauma im Inneren des Menschen, und versetzt uns – mit seiner unruhigen Kameraführung, die sich immer an der „falschen“ Stelle befindet und störende Soundeffekte, wie Wassertropfen zu Beginn des Filmes oder das Keuchen von Erwin Leders, aufgreift – in diesen subjektiven und verzweifelten Albtraum eines Mörders.

Im Kino zu sein ist nicht einfach und war es noch nie. Lasst uns diese Unanständigkeit, die Unübersetzbarkeit in kommerzialisierbare Formate bewahren.

Im Kino zu sein ist nicht einfach und war es noch nie. Lasst uns diese Unanständigkeit, die Unübersetzbarkeit in kommerzialisierbare Formate bewahren. In jener Nacht wollte Nicolai diese „Angst“ mit mir teilen. Schweigend, im Kino sitzend und auf die Leinwand starrend, dachten wir: „Was auch immer passiert, wir stecken da gemeinsam drin.“ Wozu gibt es schließlich Kunst, wenn sie Menschen nicht miteinander verbindet? Wir sind zusammen wie zwei Standbilder, die eine einzige Geste formen, wie zwei Takes, die Rücken an Rücken geschnitten wurden. Und das ist letztlich unser gesunder Wahnsinn.

[1] In Two Regimes of Madness, Texts and Interviews 1975-1995 Gilles Deleuze (1925-1995), edited by David Lapoujade.
 

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