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Versuche einer Rückkehr
Wer in einem Haus lebt, ist ein kommender Geist

The House of Memories and Confessions (Ivana Miloš), monotype, gouache, and collage on paper, 42 x 18 cm
The House of Memories and Confessions (Ivana Miloš), monotype, gouache, and collage on paper, 42 x 18 cm | Illustration: © Ivana Miloš

Auf der Suche nach den Gefühlen des Zuhauseseins streifen Patrick Holzapfel und Daniela Rôla durch Porto und Manoel De Oliveiras „Visita ou Memórias e Confissões“. Es ist eine kinematographische Begegnung mit den Gespenstern, die an jenen Orten auftauchen, die wir mit unseren Erinnerungen beleben.

Von Patrick Holzapfel

Manchmal stelle ich mir vor, dass ein Film anhält und erstarrt, sodass er wie ein Abziehbild auf der Leinwand zurückbleibt. Dieses Abziehbild klebe ich mir dann in ein Album, das ich seit Jahren fülle, aber nie betrachte, obwohl ich mir immer vornehme, es möglichst bald, in einer ruhigen Sekunde hervorzuholen. Selbst wenn ich diese Bilder vielleicht nie wieder sehe, sind sie da und das Wissen darüber, dass ich jederzeit zu ihnen zurückkehren könnte, bringt mir Sicherheit und Freude. Allerdings verlieren die Bilder mit jeder Erinnerung an sie an Kontur. Ich müsste sie wieder sehen, aber man kann nicht alles wiedersehen. Sie werden unscharf, verformen und vermischen sich mit all den anderen abgelagerten Resten an Bildern, derer man sich erinnern will oder die man eigentlich verdrängt hatte. Am Ende bleibt nur ein unwirkliches Rauschen. Die Abziehbilder lösen sich wieder ab und landen in vergilbten Kartons auf einem vergessenen Flohmarkt, den manche ein Archiv nennen und andere das Vergessen.  

Als mich Daniela Rôla an einem warmen Frühsommertag in Porto ins Cinema Trindade führte, wusste ich zunächst nicht, dass sie mich nach Hause eingeladen hatte. Nicht in ihr Haus, sondern in eine Idee von Zuhause. Wie so oft und nicht erst in den vergangenen Monaten gab es da diese Nähe aus theoretisch-intellektueller Stimulation und dem penetranten Möglichkeitssinn fehlender Erfahrung. Man kann niemanden besuchen, aber spricht über das Zuhause. Man geht nicht ins Kino, aber schreibt über das, was das Kino auszeichnet. Ideen herrschen, Erfahrungen sind ausgesetzt. Ein Gespräch und ein Film, so das Vorhaben unserer kleinen Textreihe hier, sollen das Vakuum beschreiben, in dem wir uns bewegen. Gleichzeitig halten wir uns an die demokratischen Versprechen der Ortlosigkeit, das heißt, wir kommunizieren über Grenzen hinweg, zwischen Kulturen, in der Hoffnung, dass sich doch etwas konkretisiert, ganz so, als würde man so viele Abwesenheiten addieren, dass eine Anwesenheit entsteht.

Ein Gespräch und ein Film, so das Vorhaben unserer kleinen Textreihe hier, sollen das Vakuum beschreiben, in dem wir uns bewegen.

Wann immer man ein Zuhause betritt, muss man seine Sachen ablegen. Man lässt seine Schuhe und eigenen Probleme anderswo. In Danielas Zuhause fand ich weder die voyeuristische Neugier an der Intimität fremder Existenzen noch die unnötige Anspannung, die uns oft überkommt, wenn wir nicht „bei uns“ sind. Daniela zeigte mir ein utopisches Zuhause, eines, das keinen Besitzer hatte. Wie war das möglich?

Die Phasen des Kinos

Der Film, den wir uns vorstellten, gemeinsam im Cinema Trindade, einem alten Kino aus den 1950er Jahren, das lange geschlossen war und erst kürzlich wieder öffnete, anzusehen, war Manoel de Oliveiras „Visita ou Memórias e Confissões“. Ich kannte den Film, das heißt, ich wusste, dass ich ihn irgendwo in meinem Abziehalbum angelegt hatte und ich erinnerte mich auch an die Straßen Portos, die Hügel, das Kopfsteinpflaster, die Möwenschreie, den Douro und die vom Meer durch die Gassen geschickte Ewigkeit und Würde dieser Stadt. Ich erinnere mich, weil ich dort war und weil de Oliveira dort gefilmt hatte. Während wir sprachen, hatte ich nie das Gefühl, wir würden aufbrechen, nein, wir kehrten stets heim.

Daniela beschrieb mir das Kino. Sie erzählte, wie man in den Toiletten die Töne aus dem Saal hören könnte und wie das Leben rund um dieses Haus, ja bringen wir diese Metapher schnell hinter uns, denn ein Kino ist auch ein Haus, pulsierte. Die Ruhe unseres Gesprächs geriet ins Wanken, als wir uns vorstellten, dort zu sein. Ich glaube, dass es für jeden Kinobesuch drei Phasen gibt. Die erste, das war die, die Daniela und ich erlebten, das ist die Phase der Lust und Vorfreude, der Imagination und Angst, wenn man sich überlegt, wie es wäre ins Kino zu gehen. Die zweite ist die, die am meisten beschrieben wird, aber wahrscheinlich am unwichtigsten für die persönliche Erfahrung ist, selbst wenn man sie einmal gemacht haben muss, um die erste überhaupt erleben zu können, es ist der Kinogang selbst, der Film, das Alleinsein oder Miteinander im Saal. Die dritte Phase ist das, was nach dem Film passiert, der Heimweg, die durch den Körper rasenden Gefühle, die Gespräche, das Nachdenken, das Träumen, das Schreiben, die Erinnerung bevor sie verblasst. Diese dritte Phase ist das, was das Kino wirklich ausmacht, in ihr gewinnen wir aus dem Kino für das Leben. Wenn man wirklich in ein Kino geht, gibt es keine dieser Phasen ohne die andere. Sie alle machen das Kino aus.

Daniela sagt mir, sie hätte diesen Film in diesem Kino gewählt, weil es ihr um die Wiederkehr ging, die Rückkehr ins Kino, die Erinnerung an das, was erlebt wurde. Im Leben aller Menschen, egal ob sie eine Pandemie überleben oder nicht, gibt es Anlässe, zu denen sie zu etwas zurückkehren, das ihnen lange Zeit versperrt war. Dabei kann man ein Paradox beobachten, denn die wenigsten Menschen nutzen wiedererlangte Freiheiten oder Möglichkeiten, um etwas Neues zu entdecken, die meisten begnügen sich damit, die alten Muster neu zu erfahren, jene Muster, die in ihrer Abwesenheit zu einer Sehnsucht wurden, obwohl sie eigentlich Erinnerung waren. Das könnte man Melancholie nennen oder Phantasielosigkeit. Vielleicht ist Melancholie aber auch nur die Phantasie derer, die keine Wahl zu haben glauben.

Die Erinnerungen des Kinos

„Visita ou Memórias e Confissões“ ist ein sehr wichtiger Film für mich, das konnte Daniela nicht wissen. Ich hatte bereits darüber geschrieben und durfte sogar einen Vortrag über den Film und das für den Film so wichtige Haus de Oliveiras im Filmmuseum München halten, bei dem Helmut Färber, der größte deutsche Filmkritiker und ausgesprochener Architekturkenner anwesend war. Dieses Haus, dass de Oliveira in seinem 1981 realisierten Film verewigte, ehe er die Filmkopie wegsperren ließ, um sie mit zwei, fast geheimen Ausnahmen erst nach seinem Ableben zugänglich zu machen (jedes Jahr Gefängnis für den Film, war ein Jahr Leben für den Regisseur), war auch Thema als ich mit Daniela über den Film sprach. De Oliveira lebte 40 Jahre in diesem Haus. In seinem Film „Porto da Minha Infância“ nennt er es ein Labyrinth.

In „Visita ou Memórias e Confissões“ nähern sich eine schüchterne Kamera und zwei geisterhafte Stimmen (Teresa Madruga and Diogo Dória) diesem Heim. Sie betreten den scheinbar verlassenen Ort und betrachten die unausgesprochenen Erinnerungen und Geständnisse, die sich in allen Wänden sammeln, zwischen denen Menschen leben. Später im Film wird de Oliveira Bilder seines Lebens auf dieselben Wände projizieren, während uns Familienbilder von den Schränken anstarren wie aus einem Text von Roland Barthes. Der Filmemacher erzählt aus seinem Leben, aber er strukturiert sein Leben architektonisch. Die Fragen seines Hauses decken sich mit seinem Leben: was ist hinter dieser Wand, was befindet sich im anderen Stockwerk, in welcher Zeit existieren diese Räume? Rainer Werner Fassbinder hat gesagt, dass er mit seinen Filmen ein Haus errichten möchte. De Oliveira hat einen Film aus seinem Haus gebaut. Derart bewahrt er nicht nur die Geschichte dieses von José Porto entworfenen Gebäudes, sondern auch seine eigene Geschichte, für die das Haus ein Museum ist. Inzwischen ist das Bauwerk geschützt.

Die Geister des Kinos

Daniela und ich sprechen über Häuser und Geister. Wir fragen uns, was mit all den Dingen passiert, die man in einem Haus erlebt hat, wenn man nicht, wie de Oliveira, einen Film über sie dreht. Verschwinden sie einfach oder bleiben sie irgendwie hängen? Wie ist es mit all den Filmen, die über Leinwände liefen? Bleibt etwas von ihnen hängen? Sie erzählt mir, dass de Oliveira das Cinema Trindade besucht hatte. Vielleicht also könne man seinen Geist durch das Foyer wandeln sehen? Das Kino ist voller Geschichten von Heimsuchung, ein Begriff, der im Deutschen bereits eine große Komplexität aufwirft. Suchen wir nicht alle ein Heim? Leben wir nicht alle als Geister an den Orten fort, an denen wir gelebt und gewirkt haben? Und ist nicht die von de Oliveira so geliebte Fiktion ein Teil dieser Suche, in der es auch darum geht, dass wir uns ein Heim vorstellen, es erzählen, mit unseren Wünschen füllen? Das Cinema Trindade und das Haus von de Oliveira zeigen, dass sich Orte verändern, je nachdem, wer in ihnen lebt. Häuser verändern sich mit jeder Sekunde, in der man in ihnen lebt. Mal sind sie Rückzugsort, mal ein Hindernis, mal sind sie viel zu klein, mal viel zu groß. Sie haben keine objektive Bedeutung, es gibt nicht das eine Kino, es gibt eine Myriade an Kinos, die meisten schon lange verglüht, aber wir sehen sie noch, weil das Licht so langsam stirbt.

Das Cinema Trindade und das Haus von de Oliveira zeigen, dass sich Orte verändern, je nachdem, wer in ihnen lebt. Häuser verändern sich mit jeder Sekunde, in der man in ihnen lebt.

Gemeinhin wird gesagt, dass Menschen nur einmal sterben. De Oliveira realisierte den Film, als er sein Haus verlassen musste und irgendwie filmt er damit auch einen Tod, nicht den physischen, endgültigen, aber einen Tod, jenen tausender Abziehbilder und all der Gefühle, die er und wir alle mit Orten verbinden. Das ist genau das, was die als nostalgische Romantiker abgestempelten Kommentatoren beschreiben, wenn sie seit Jahrzehnten den Tod des Kinos monieren. Natürlich geht es irgendwie weiter, für de Oliveira sogar Jahrzehnte lang, aber das, was verschwindet, macht uns, um ein berühmtes Interview mit João César Monteiro zu zitieren, ärmer. Seit jeher arbeiten Filme und die Kunst allgemein gegen diese Form des Todes an. Es ist ein Windmühlenkampf, der uns am Leben hält. In Porto zeugt davon unter anderem ein riesiges Bild von Don Quixote und Sancho Pancha, das ein Künstler mit Graffiti an eine Häuserwand gesprüht hat. Trotzdem bröckeln die Fassaden der Häuser, überall werden die Geschichten mit weißer Farbe und Corporate-Designs überstrichen, so sehr, dass man die gleichen Häuser an völlig unterschiedlichen Orten wiederfindet.

Die Häuser des Kinos

Filme wiedersehen, ein Kino wiedersehen, Menschen wiedersehen, das alles meint weniger die konkreten Orte, Dinge oder Personen, sondern die Geschichten, die wir mit diesen teilen. Daniela spricht über de Oliveiras kurze Episode im Gefängnis, die im Film thematisiert wird. Sie beschreibt die leere Zelle, das Charakterlose und Anonyme dieser Welt. Das Heim, sagt Daniela, trete für de Oliveira dann auf, wenn ihm seine Frau einige Kekse in einer Schachtel bringen würde. Ein schöner Gedanke, der das Haus endgültig als Gefühl begreift, als Geschmack der Geborgenheit und als etwas, das wir transportieren können, solange es existiert.  

Ich bin mir weder nach Monaten des Zuhauseseins noch nach dem Gespräch mit Daniela sicher, was ein Zuhause ist, aber ich glaube verstanden zu haben, dass es sich von andere Dingen unterscheidet, weil es weder flüchtig noch willkürlich ist. Gleichzeitig ist ein Zuhause nicht an einen Ort gebunden, sondern an Gefühle. Wenn wir die Welt an sich mehr behandeln könnten, als wären sie unser Zuhause, wäre viel gewonnen. Dazu zählen auch Filme, die heute kommen und gehen als hätte es sie nie gegeben, sodass nur wieder dieser allgemeine, verschwommene Dunst zurückbleibt, den die Alten wohl beschreiben, wenn sie sagen: „Ich erinnere mich nicht.“
 

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