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Der einzigartige Weg von Ulrike Ottinger
Vom Neuen Deutschen Kino zum Queer-Feminismus

Die Regisseurin Ulrike Ottinger bei der Eröffnung der Ausstellung Books of Images im Museu do Oriente in Lissabon, Oktober 2021.
Die Regisseurin Ulrike Ottinger bei der Eröffnung der Ausstellung Books of Images im Museu do Oriente in Lissabon, Oktober 2021. | Foto (Ausschnitt): © Miguel Chorão

Das 19. Doclisboa würdigte die deutsche Regisseurin und Fotografin Ulrike Ottinger mit einer bisher einzigartigen Gesamtretrospektive ihrer 27 Filme und der Ausstellung "Buch der Bilder" im Museu do Oriente. An einem Nachmittag in der Cinemateca Portuguesa gab Ottinger dem Magazin des Goethe-Instituts Portugal dieses Interview, in dem sie über ihren einzigartigen Werdegang, Filme zwischen 11 und 501 Minuten, Queer-Feminismus und finanzielle Schwierigkeiten bei großen Projekten spricht.

Als aufstrebende junge Malerin lebt Ulrike Ottinger in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im süddeutschen Konstanz und beschließt 1962 im Alter von 20 Jahren, nach Paris zu ziehen. Dort, in den Kinosälen der Cinémathèque Française, verliebt sie sich unsterblich in das Kino.

"Die deutsche Filmkultur, die in den 1920er und 1930er Jahren so ausgeprägt war, verschwand nach dem Krieg, weil alle interessanten Regisseure das Land verlassen hatten. Als Kind habe ich einige französische Filme gesehen, aber im Alter von 16 bis 20 Jahren habe ich kaum etwas gesehen und mich auch nicht mehr so sehr für das Kino interessiert. In Paris wiederum konnte ich alles sehen - und das war fantastisch. Ich habe die großen Hollywood-Filme gesehen, die Nouvelle Vague, deutsche Filme, russische Filme, Independent-Filme, Filme aus dem Maghreb, aus Nordafrika, aus Indonesien... Diese Zeit war sozusagen meine cineastische Ausbildung", sagt Ottinger. Ihr jüngster Film, Paris Calligrammes (2020), schildert diesen Lebensabschnitt - ihren Einstieg in die bildende Kunst - inmitten der politischen Umwälzungen des Algerienkriegs und des Mai 1968.

Die Premiere von Paris Calligrammes im Rahmen der letztjährigen Berlinale war für Ottinger gewissermaßen der Ausgangspunkt für einen Prozess der Reflexion über ihr Werk, wie Joana Sousa, Ko-Direktorin von Doclisboa, hervorhebt. "Es schien uns interessant, sie einzuladen, diese Reflexion fortzuführen. Ottingers Werk gehört einem ganz eigenen Universum an, ist von ethnografischen Erkundungen, von der Welt der Performance und des Zirkus beeinflusst, in der die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte verschwimmen. Es schien uns interessant, mit diesem Werk im Rahmen von Doclisboa zu arbeiten, und es war uns wichtig, es in seiner Gesamtheit zu zeigen, damit diese Spannungen zwischen Fantastischen und Realem, zwischen Fiktion und Dokumentarischem, spürbar werden und wir sie in ihrer Tiefe denken können", sagt Joana.

Aufbruch in Berlin

Ottinger berichtet, dass sie - als sie 1969 nach Konstanz zurückkehrte – beschloss „als Künstlerin“ alleine zu arbeiten und einen Filmclub und eine Kunstgalerie zu gründen. Auf diese Weise, sagt sie, habe sie dazugelernt, indem sie die Dinge tat, gewissermaßen „learning by doing“. Einer der Künstler, deren Werke sie in ihrer Galerie zeigte, war Wolf Vostell (1932-1998), der sie 1973 nach Berlin einlud, um eines seiner Happenings zu filmen.

Im selben Jahr zieht Ottinger endgültig in die deutsche Hauptstadt und beginnt ihre ersten fiktionalen Kurzfilme wie Laokoon & Söhne (1972/73) und Die Betörung der blauen Matrosen (1975) zu drehen. Letzterer ist auch einer der Lieblingsfilme von Joana Sousa: "Es ist ein legendenhafter Film, der von extremer Schönheit ist, aber gleichzeitig mit der Unschuld erschaffen wurde, die charakteristisch für die Energie junger queerer Menschen ist, die gemeinsam etwas schaffen wollen und am Ende eine fantastische Welt finden, selbst mit kleinen Budget", betont Joana.

Kontroversen

Zu dieser Zeit war die Bewegung des Neuen Deutschen Films, getragen von Namen wie Werner Schroeter und Rainer Werner Fassbinder, auf ihrem Höhepunkt. 1977 veröffentlichte Ottinger ihren ersten und umstrittensten Spielfilm, Madame X - Eine absolute Herrscherin. Wie die Regisseurin selbst in Erinnerung ruft, wurde der Film im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit gezeigt. "Die ganze Nation hat ihn gesehen. Und was für Reaktionen! Die Menschen aus den Dörfern kamen in großen Gruppen nach Berlin und standen vor unserem Haus, in unserer Straße. Ich hätte nie gedacht, dass es eine solche Reaktion auf den Film geben würde. Es war ein großer Skandal, aber viele Menschen waren sehr froh, dass darüber gesprochen wurde."

In der Handlung des Films lockt ein Pirat mehrere gelangweilte Frauen, darunter die feministische Choreografin und Filmemacherin Yvonne Rainer, mit dem Versprechen auf ein Abenteuer auf hoher See. Doch Madame X entpuppt sich als Tyrannin. Die Regisseurin weist auf den Widerspruch hin, dass sich ein bestimmter Teil der feministischen Bewegung auf hierarchische und patriarchalische Normen stützt. "Das, was wir damals gemacht haben, unterschied sich gänzlich vom Kino dieser Zeit. Der Film wurde von vielen Leuten verstanden, aber einige haben ihn nicht begriffen. Die Rezeption war sehr gespalten zwischen denen, die froh waren, dass jemand genau das zum Ausdruck brachte, was sie wollten, und es brillant umsetzte, und anderen, die den künstlerischen Kontext missverstanden und nur den feministischen Kontext auf direkte, konventionelle Weise sehen wollten", sagt Ottinger.

Ihr nächster Spielfilm, Bildnis einer Trinkerin (1979), ist der erste Teil der Berlin-Trilogie, gefolgt von Freak Orlando (1981) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984). Protagonistin in dieser Geschichte einer Frau, die sich zu Tode trinken will, ist Ottingers langjährige Schaffenspartnerin und Weggefährtin Tabea Blumenschein (1952-2020), eine Künstlerin, die in den 1980er Jahren zu einer Referenz im Berliner Nachtleben wurde.

Ich reise, weil ich es muss

Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre beginnt Ottinger, tief in andere Kulturen einzutauchen. Auf ihren zahlreichen Reisen nach Asien erstellt sie Notizbücher mit Bildmaterial und Texten, die als Leitfaden für ihre Dreharbeiten dienen. Ihr erster Dokumentarfilm im Stil eines „Reisetagebuchs" ist China – die Künste – der Alltag. Eine filmische Reisebeschreibung (1985), der das Land von der Sichuan-Oper bis zu den Filmstudios in Peking in Bildern bereist. Einer ihrer berühmtesten Filme – nicht zuletzt, weil in ihm die Hauptdarstellerin Delphine Seyrig ihren letzten Auftritt vor ihrem Tod hat - Johanna d'Arc of Mongolia (1989) beginnt als Fiktion, verschwimmt aber bald mit der Realität. In der Folge veröffentlicht Ottinger Taiga (1991/92), ihr längstes Werk, das rund acht Stunden dauert und ebenfalls in der Mongolei gedreht wurde.

Es ist immer schwieriger für Frauen, im Film zu arbeiten, vor allem, wenn man Dinge anders macht, mit einer anderen Ästhetik.

Ulrike Ottinger

Auch in ihrem eigenen Land erstellt Ottinger ein filmisches „Reisetagebuchs", in Countdown (1990), der auf den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands zurückblickt. Laut dem Filmkritiker Boris Nelepo, der auf Einladung von Doclisboa die Retrospektive kuratierte, ist Countdown aus unerfindlichen Gründen wenig bekannt, ist er doch einer der wichtigsten Dokumentarfilme in der Geschichte des Kinos. "Countdown ist ein einzigartiger Film über eine Phase des Übergangs, und die Art und Weise, wie Ulrike diesen Film realisiert hat, ist unglaublich. Sie hat ihn gemacht, nachdem sie in der Mongolei und in China gedreht hat - und aus dieser Erfahrung heraus filmt sie ihr Land in der Metamorphose." Joana Sousa unterstreicht zudem, dass "obwohl der Film nicht an dem exotischsten Ort gedreht wurde, an dem sie je war, er für mich die interessanteste Erkundung eines Gebiets ist." "In Countdown filmt Ottinger den Alltag der Menschen und auf den Straßen in einer Zeit, in der sich zwei Welten vermischen. Es war auch die Entdeckung eines anderen, Ottinger unbekannten Deutschlands, das zu diesem äußerst intimen Film führte", sagt die Festivalleiterin.

Für Ottinger selbst ist einer ihrer weniger bekannten Filme, der neue Aufmerksamkeit verdienen würde, Zwölf Stühle (2004). Ausgehend von einem Roman der sowjetischen Schriftsteller Ilya Ilf und Evgueni Petrov folgt der Film einem Betrügerpaar in der Sowjetunion des Jahres 1927. "Ich weiß nicht, warum, aber der Film ist verschwunden. Gerade heute, vor dem Hintergrund all der Veränderungen in Russland und der Ukraine, wäre es so wichtig, ihn zu sehen. Ich will ihn in jedem Fall neu herausbringen."

Obwohl sie für ihre Dokumentarfilme bekannt ist, sagt Ottinger, sie hätte gerne mehr Spielfilme gedreht, aber sie hätte nie das Geld dafür gehabt. Auf die Frage, ob dies etwas damit zu tun hat, dass sie eine Frau ist, antwortet die Regisseurin: "Es ist immer schwieriger für Frauen, im Film zu arbeiten, vor allem, wenn man Dinge anders macht, mit einer anderen Ästhetik. Am Anfang sagten einige Leute: 'Sie weiß nicht, was sie tut', 'sie ist nicht professionell genug'. Ich bin sicher, dass ich als Mann mehr Changen gehabt hätte, Finanzierung für große Filme zu bekommen. Es wäre einfacher gewesen."
 

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