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Ein Panorama des deutschsprachigen Frauenfilms
Wege zu einer neuen Filmsprache

Kino no feminino
Bild: Suzana Carneiro © Goethe-Institut Portugal

Eine neue Generation von deutschen Regisseurinnen setzt sich in ihren Filmen mit Themen wie Identität, Gesellschaft, Rassismus, Missbrauch und Sexualität auseinander. Alison Kuhn, Sarah Blaßkiewitz, Sabrina Sarabi und Janna Ji Wonders sind nur einige der Stellvertreterinnen dieser Generation, die Aspekte verschiedener Regionen Deutschlands aus einer feministischen Perspektive darstellen und damit das Patriachat hinterfragen. Von wegweisenden Filmemacherinnen inspiriert verfolgen sie ihre Karrieren hinter der Kamera.

Von Letícia Mendes

Eine der ersten Frauen, die in Deutschland Filme drehten, war Lotte Reiniger (1899-1981). Als Pionierin des Silhouetten-Animationsfilms veröffentlichte sie 1919, vier Jahre vor der Gründung der Walt Disney Studios, den Kurzfilm „Das Ornament des verliebten Herzens“. 1926 stellte sie ihren ersten abendfüllenden Film, „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, fertig, der als einer der ältesten Animationsfilme der Welt gilt. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus mussten Reiniger und ihr Mann Carl Koch in mehrere Länder flüchten, was sie nicht davon abhielt bis zu ihrem Tod über 50 weitere Filme zu drehen. 1933 begann eine andere Frau, in Deutschland auf sich aufmerksam zu machen. Leni Riefenstahl (1902-2003), die von Adolf Hitler fasziniert war, porträtierte in dem Kurzfilm „Der Sieg des Glaubens“ eine Kundgebung der Nazi-Partei und drehte anschließend mit „Triumph des Willens“ (1934) und „Olympia“ (1938) einige der berühmtesten Dokumentarfilme der Filmgeschichte. In der Nachkriegszeit gab Riefenstahl nach ihrer Gefangennahme durch die alliierten Siegermächte das Filmemachen auf und widmete sich einer Karriere als Fotografin.

Von 1962 bis 1982 entstand der Neue Deutsche Film, eine Bewegung, die fast ausschließlich von Männern geführt wurde. Vier Frauen ragen jedoch heraus: Helma Sanders-Brahms (1940-2014) mit „Deutschland, bleiche Mutter“ (1980), Helke Sander (1937) mit „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ (1978), Margarethe von Trotta (1942) mit „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1975) und Ulrike Ottinger (1942) mit „Madame X - Eine absolute Herrscherin“ (1978) - um nur einige der wichtigsten Filme zu nennen. Die Werke dieser Zeit brachten Deutschland zum ersten Mal seit dem Ende der Weimarer Republik wieder auf die Agenda internationaler Festivals und der Filmkritik.

Von den 1990er Jahren bis zum Beginn dieses Jahrhunderts entstand die Berliner Schule, die trotz ihres Namens in verschiedenen deutschen Städten ausgebildete, unabhängige Filmschaffende integrierte. Ihre Filme zeichnen sich in der Regel durch persönliche Dramen und Subjektivität aus. Häufig suchen die Protagonist*innen nach einer Möglichkeit sich aus einer unglücklichen Situation zu befreien. Die berühmtesten Regisseurinnen dieser neuen Welle - und ihre jeweiligen Filme - sind: Angela Schanelec (Marseille), Maren Ade (Toni Erdmann), Valeska Grisebach (Mein Stern), Maria Speth (Madonnen), Elke Hauck (Karger), Sonja Heiss (Hotel Very Welcome), Ayşe Polat (En garde), Isabelle Stever (Gisela) und Pia Marais (Die Unerzogenen).

Bereits 2003 wurde Regisseurin Caroline Link in Hollywood für das Drama "Nirgendwo in Afrika" mit dem zweiten Oscar für den besten ausländischen Film für Deutschland ausgezeichnet.

Neue Generation, neue Themen

Seit dem Publikums- und Kritikererfolg von „Toni Erdmann“, Maren Ades drittem Spielfilm aus dem Jahr 2016, gewinnen zahlreiche deutsche Regisseurinnen, die ihre eigenen Filme produzieren, schreiben und inszenieren, an Sichtbarkeit. Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der Filmindustrie ist jedoch nach wie vor augenfällig. Laut einer Studie der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle (EAO), die im Juli 2020 veröffentlicht wurde, lag der Anteil der Frauen an den Spielfilmschaffenden in Europa zwischen 2015 und 2018 bei nur 22 %. Rund 28 % der in diesem Zeitraum produzierten Dokumentarfilme wurden von Frauen gedreht. Sowohl im fiktionalen Film als auch in der Animation beträgt der Frauenanteil nur 17 %.

Seit nunmehr 19 Ausgaben ist vieles von dem, was in Deutschland von einer neuen Generation von Frauen produziert wird, im Programm von KINO - Mostra de Cinema de Expressão Alemã in Portugal zu sehen. Themen wie Identität, Rassismus und Sexualität werden von den Filmemacherinnen auf unterschiedliche Weise aufgegriffen. In den vergangenen Jahren waren Werke wie „Kinder“ (2019) von Nina Wesemann, „Schwimmen“ (2018) von Luzie Loose, „Kokon“ (2020) von Leonie Krippendorff, „Nackte Tiere“ (2020) von Melanie Waelde und viele andere Filme von Regisseurinnen zu sehen, die eine neue Gruppe junger Menschen ansprechen, die mehr Sensibilität und Bewusstsein für sexistische, rassistische und LGBT-feindliche Strukturen haben, die in Frage gestellt werden müssen.

Der Spielfilm „Ivie wie Ivie“ von Sarah Blaßkiewitz, einer der Höhepunkte der 19. KINO-Ausgabe, ist ein gutes Beispiel für die Dringlichkeit der Debatte(n) über Rassifizierung, Colorism und Weißsein sowie deren Auswirkungen auf soziale Beziehungen. In dem Drama von Blaßkiewitz lernen sich zwei afrodeutsche Halbschwestern erst im Alter von 30 Jahren kennen, weil ihr gemeinsamer senegalesischer Vater gestorben ist. Naomi ist die Tochter einer Schwarzen Frau und lebt in Berlin, einer multikulturellen Stadt. Ivie ist die Tochter einer weißen Frau und lebt in Leipzig, einem eher universitär geprägten Ort. Naomi ist stets wachsam, wenn es um rassistische Verhaltensweisen geht, während Ivie diese bisher weniger wahrnimmt. Und doch hören beide regelmäßig Fragen wie „Wo bist du geboren?“ und „Woher kommen deine Eltern?“. Ihre Begegnung bringt die Protagonistin Ivie dazu, ihre Freunde, ihre Vorstellungsgespräche und ihr Selbstbild in Frage zu stellen. Der Film trägt dadurch zu einer (nicht nur) in der deutschen Gesellschaft absolut notwendigen Diskussion über strukturellen und alltäglichen Rassismus bei. In einem Interview mit Cineuropa erzählte die Regisseurin, dass die Handlung und die Charaktere aus persönlichen Erfahrungen und Lücken in ihrer eigenen Biografie entstanden sind.
„Ivie wie Ivie“ steht im Dialog mit dem Dokumentarfilm „Becoming Black“ (2019), der im Rahmen der letzten Ausgabe von KINO präsentiert wurde. Die Regisseurin Ines Johnson-Spain, die eine Generation älter ist als Blaßkiewitz, beschreibt darin, wie es war, in den 1960er Jahren in einer weißen Familie in der DDR aufzuwachsen, die nie mit ihr über ihre Hautfarbe sprach. Während sie ihre Kindheitserinnerungen an die Oberfläche holt und als bereits Erwachsene ihre Herkunft in Togo findet, spricht Johnson-Spain koloniale und rassistische Themen an. Andere Regisseurinnen, die in ihren Werken von Identität und Zugehörigkeit sprechen, sind Uisenma Borchu in „Schwarze Milch“ (2020) und Narges Kalhor mit „In The Name Of Scheherazade Or The First Beergarden In Tehran“ (2019). Borchu wurde in der Mongolei geboren, Kalhor im Iran. Beide leben seit vielen Jahren in Deutschland und thematisieren in ihren Filmen strukturellen Rassismus und ihre individuellen Erfahrungen, innerhalb der deutschen Gesellschaft als „exotisch“ betrachtet zu werden.

Missbrauch und Trauma

Der Dokumentarfilm „The Case You“ begleitet sechs junge Schauspielerinnen, darunter die 26-jährige Nachwuchsregisseurin Alison Kuhn, die über ihre traumatische Erfahrungen mit sexueller Manipulation im Arbeitsumfeld sprechen. Der Fall ereignete sich für jede von ihnen individuell während eines Castings, bei dem sie von den angeblichen Regisseuren eines Films, der nie gedreht wurde, missbraucht und gefilmt wurden. Im Interview mit dem Magazin des Goethe-Instituts Portugal sagt Kuhn, dass sie selbst nicht körperlich missbraucht wurde, aber von anderen Frauen wusste, die schlimmen Übergriffen ausgesetzt waren: „Ich habe mich entschlossen, diesen Film zu drehen, als ich bei meiner Aufnahmeprüfung für das Regie-Studium von einem Kommilitonen angesprochen wurde. Er hat mich wiedererkannt, weil er bei diesem Casting, bei dem viele Grenzen überschritten wurden und zu dem ich als junge Schauspielerin eingeladen wurde, zum Team gehörte. Ich saß abends zu Hause und merkte, dass ich von vielen Gefühlen überwältigt wurde. Noch am selben Abend beschloss ich, einen Film über diesen Vorfall zu drehen, falls ich zum Regie-Studium zugelassen werden würde. Es hat tatsächlich geklappt und ich habe den Dokumentarfilm in meinem ersten Studienjahr gedreht.“
Kuhn sagt, sie habe mit jeder Protagonistin ein langes Vorgespräch geführt, um ihre Geschichten kennenzulernen und einschätzen zu können, wie man mit ihnen umgehen kann. "Das war auch wichtig, um ein gewisses Vertrauen aufzubauen, sowohl auf ihrer als auch auf meiner Seite. Tatsächlich haben wir alle sehr schnell einen Draht zueinander gefunden und gemerkt, dass wir uns in die gleiche Richtung bewegen. Für mich war es wunderbar zu beobachten, wie sich während der Dreharbeiten eine Freundschaft zwischen den Hauptdarstellerinnen entwickelte, von denen sich viele noch nie zuvor gesehen hatten. Obwohl das Thema schwierig war, hatten wir am Set auch viel Spaß und haben viel gelacht. Humor ist ein hervorragendes Mittel, um in schwierigen Situationen standhaft zu bleiben“, betont die Regisseurin.

„The Case You“ ist ein mutiger Ansatz in einer Branche wie der Filmindustrie, in der Berichte über Belästigungsfälle die Betroffenen oft nicht schützen. Häufig werden ihre Aussagen heruntergespielt und sie verlieren ihre Arbeitsmöglichkeiten, während die Täter ihre Machtpositionen behalten. Erst nach dem Harvey-Weinstein-Skandal hat der US-Markt beispielsweise begonnen, Regeln für das Drehen intimer Szenen zu diskutieren und Intimitätskoordinator*innen einzustellen. Eine Berliner Regisseurin, die dieses Thema in jüngerer Zeit - allerdings fiktional - aufgegriffen hat, ist Eva Trobisch in dem Film „Alles ist gut“ (2018). Darin wird die Protagonistin von dem Schwager ihres Chefs vergewaltigt, versucht aber, weiter ihren normalen Routinen nachzugehen, ohne ihn anzuzeigen.

Kuhn, die sich selbst als Fan von Regisseurinnen wie Nora Fingscheidt, Maria Schrader, Maren Ade, Athina Rachel Tsangari, Greta Gerwig und Ildikó Enyedi bezeichnet, sagt, ihre neue Kurzgeschichte "Fluffy Tales" sei sehr stark von „The Case You“ inspiriert. „Ich habe mich jedoch für die Modewelt entschieden, genauer gesagt für ein Werbefoto-Shooting für eine neue Art von Hundefutter“, erklärt sie. Außerdem stellt sie gerade eine Literaturverfilmung für den deutschen Fernsehsender 3sat über die Entstehung von Machtstrukturen in der Jugend fertig und führt im Januar bei einer weiteren deutschen Serie über das Erwachsenwerden Regie.

Komplexität

Der Lauf der Zeit und das Älterwerden bilden den Rahmen für „Walchensee Forever“ der 43-jährigen Regisseurin Janna Ji Wonders. Der Dokumentarfilm zeichnet die Geschichten mehrerer Generationen von Frauen in ihrer Familie nach, wobei der Walchensee in Bayern zugleich Schauplatz ist und als eine Art eigene Figur dient. Die in Kalifornien (USA) geborene Wonders nutzt Archivmaterial, Tonaufnahmen, Fotoalben, Tagebucheinträge und Interviews, um den Zuschauer*innen die Komplexität der Geschichte ihrer Urgroßmutter Apa, Großmutter Norma, Mutter Anna und Tante Frauke näher zu bringen. Urgroßmutter Apa zog nach dem Tod einer ihrer Töchter (Normas Schwester) an den Walchensee, wo sie selbst ein Gasthaus baute und betrieb und es später an Normas Großmutter weitergab. Norma zog ihre beiden Töchter in dieser idyllischen Umgebung auf, die Tourist*innen aus aller Welt empfängt, aber Anna und Frauke wollten unbedingt selbst die Welt entdecken. Jede Frauengeneration geht ihren eigenen Weg, lebt mit den gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Epoche auf ihre eigene Weise und gibt ihre Erfahrungen weiter. Im Film fügt Wonders all diese Geschichten wie eine russische Puppe zusammen.
Wie in „Walchensee Forever“ ist die Präsenz der Natur auch in Sabrina Sarabis fiktionalem „Niemand ist bei den Kälbern“ wesentlich, um die Konstruktion der Erzählung und die Entscheidungen der Figuren zu verstehen. „Niemand ist bei den Kälbern“ ist inspiriert vom gleichnamigen Buch der Autorin Alina Herbing, das 2017 erschienen ist, und folgt einer jungen 20-Jährigen namens Christin, die mit ihrem Freund auf dem Land lebt. Nichts an ihrem Leben entspricht der Romantisierung ländlicher Idylle und es ist ihr größter Wunsch, in eine große Stadt zu ziehen (die nächstgelegene ist Hamburg). Aber wie, ohne ein Studium oder Geld? Im Interview mit dem Magazin des Goethe-Instituts Portugal sagt die 39-jährige Sarabi, dass sie an dem Buch vor allem die Protagonistin fasziniert hat, die in einer unterdrückenden, von Männern dominierten Umgebung mitten im Nirgendwo gefangen ist: „Alles an ihr scheint so falsch zu sein. Sie ist nicht in der Lage, sich zu befreien, sie scheint nirgendwo hinzugehen, sie hat kein Ziel, keinen Traum im Leben. Das hat mich wirklich berührt“, sagt die Regisseurin über ihre Adaption der Geschichte. Die Protagonistin Christin wird von Saskia Rosendahl gespielt, einer 28-jährigen Schauspielerin, die zum ersten Mal in „Lore“ (2012) der Australierin Cate Shortland zu sehen war und auch in „Mein Ende. Dein Anfang“ (2019), von Mariko Minoguchi, und in Sarabis vorherigem Spielfilm „Prélude“ (2019) mitspielt.

Sarabi sagt, es sei schwierig gewesen, die Monotonie des Alltags auf dem Lande darzustellen, vor allem die mühsame Routine und das zersetzende „Stummsein“ zwischen den Figuren, die ohne ein gewisses Maß an Gewalt weder kommunizieren noch einander verstehen. Die Dreharbeiten auf einem Bauernhof waren jedoch eine der größten Herausforderungen, so die Filmemacherin: „Wir waren buchstäblich von all den Kühen umgeben, die Ernte war im Gange, die Bauern liefen herum und verrichteten ihre wahnsinnig harte Arbeit, und wir drehten mittendrin einen Film“. Sarabi sagt, sie habe zwei Regisseurinnen als Referenzen: Maren Ade - die oben bereits erwähnt wurde - und die Französin Andrea Arnold. „Ihre Werke haben einen sehr naturalistischen Ansatz und die Figuren werden auf eine sehr komplexe Weise erzählt. ‚Toni Erdmann‘ hat mich zum Lachen und zum Weinen gebracht und viele Emotionen in mir geweckt. Er ist ein sehr persönlicher Film für mich, genau wie ‚Aquarius‘ (2009).“

Eine neue Generation von Filmemacherinnen in Deutschland will zeigen, dass sie die von heterosexuellen weißen Männern des letzten Jahrhunderts auferlegte Filmsprache satt haben. Wie Sarabi hervorhebt, gibt es die berechtigte Beschwerde, dass einige Geschichten über Minderheiten, die nicht von Minderheiten gedreht wurden, nicht genau genug sind, weil es oft keine Recherche gibt, die die notwendige Tiefe erreichen könne. Es besteht die Hoffnung, dass eine größere Vielfalt an Frauen, die Filme schreiben, produzieren und inszenieren Sichtbarkeit in den Kinos (und/oder Streaming-Plattformen) erlangt und bedeutende Veränderungen für die kommenden Jahrzehnte bewirken kann.
 

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